Eingeschneit

70 Zentimeter Schnee im Flachland innerhalb von 24 Stunden. Das hatte es Anfang Dezember zuletzt vor 30 Jahren gegeben, hiess es. Laura betrachtete die Fichtenäste, die von ihrer weissen Last nach unten gedrückt wurden. Der Bambus im Garten war unter einem weissen Teppich verschwunden, ebenso die niedrigen Sträucher. Der Weg zum Vogelhäuschen, den sie gestern Abend frei geschippt hatte, war kaum mehr sichtbar. Dicke Flocken legten sich auf die bereits vorhandene Schneedecke. Gleichzeitig war es klirrend kalt.

Ideales Wetter, fand Laura. Sie liebte den Winter. Mochte es, sich drinnen in eine Decke zu kuscheln und Tee zu trinken, während sich der Kerzenschein in den Fensterscheiben spiegelte. Wenn draussen Schnee lag, umso besser. Das machte die Winterstimmung perfekt. Sie hoffe, dass die Loipe im Nachbarort demnächst eröffnet würde. Dann könnte sie dort am Wochenende ihre Runden drehen. Sie checkte die Website der Loipe erneut. Keine News.

Am nächsten Morgen war es in ihrem Zimmer ungewöhnlich hell. Der Mond erleuchtete die endlosen weissen Flächen, die sie aus dem Fenster bestaunte. Es hatte aufgehört zu schneien und schien ein prächtiger Wintertag zu werden. Laura kam ins Schwitzen, als sie den nachts gefallenen Schnee vor der Ausfahrt ihrer Garage beiseite schaufelte. Die Fahrt zur Arbeit war kein Problem, die Strassen waren bereits geräumt und gesalzen worden. Immer wieder begegnete sie Autos, die mit Warnblinkanlage am Strassenrand standen. Die waren wohl noch mit Sommerreifen unterwegs, überlegte Laura. Ihr machte die winterliche Strasse nichts aus, sie war eine routinierte Autofahrerin.

Am Nachmittag setzte erneut Schneefall ein. Den kleinen Anstieg zu ihrer Garage schaffte sie nur knapp. Der Schneewall rechts und links des Tors war inzwischen knapp einen Meter hoch. Sie würde die Zufahrt noch einmal räumen, bevor sie schlafen ginge, nahm sie sich vor. Ein spannender Krimi und ein längeres Telefonat mit einer Freundin sorgten jedoch dafür, dass sie ihr Vorhaben vergass.

Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, fiel es ihr wieder ein. Laura spähte durch die Fensterscheibe des Schlafzimmers. Vergeblich. Schneekristalle klebten am Glas. Sie öffnete das Fenster mit einiger Mühe und blickte an eine weisse Wand. Ihre Finger berührten gefrorenen Schnee, der sich vor der Öffnung aufbaute. Wie konnte das sein? Ihr Schlafzimmer lag im Erdgeschoss, das schon, aber das Fenster reichte bis auf etwa zwei Meter Höhe.

Sie eilte in die Küche, das Wohnzimmer und das Badezimmer. Überall das gleiche Bild. Nur oben am Glas der Eingangstüre war ein Schimmer zu sehen, der offenbar nicht mit Schnee bedeckt war. Laura griff zu ihrem Handy, liess es aber bald wieder sinken. Kein Netz. Kein Internet. Wie war nochmal die Notrufnummer? Blödsinn, sie musste doch keinen Notruf alarmieren. Es hatte offenbar viel geschneit. Das war alles.

Laura überlegte. Ihre Gartengeräte befanden sich im Schuppen neben der Garage. Im Keller bewahrte sie nur ein paar leere Pflanzentöpfe auf. Sie durchstöberte die Schubladen in ihrer Küche, probierte sogar, den Schnee vor ihrem Schlafzimmerfenster mit einem grossen Tranchiermesser zu beseitigen. Die herausgeschlagenen Schneestücke schmolzen auf dem Laminatboden. Sie versuchte lange, die Eingangstür zu öffnen. Diese war offenbar festgefroren, ebenso die anderen Fenster ihres Bungalows. Hätte ich doch einen zweiten Stock, stöhnte Laura, als sie mit einer Tasse Tee am Küchentisch sass und ihre Möglichkeiten durchging. Telefonverbindung hatte sie immer noch keine.

Sie beschloss abzuwarten. Lebensmittel hatte sie genug, fliessendes Wasser auch. Das war ja fast wie Urlaub. Nur schade, dass der Fernseher nicht mehr funktionierte, er zeigte nur schwarz-weisses Ameisengewimmel. Immer wieder griff sie zum Handy. Es konnte doch nicht sein, dass nichts geschah! Gegen Abend verlor sie die Geduld. Sie holte ihren Föhn aus dem Badezimmer und bearbeitete mit der heissen Luft die Schneewand vor ihrem Schlafzimmerfenster. Ein Loch entstand, dann ein Tunnel. Laura unterbrach ihre Arbeit nur, um ein Verlängerungskabel zu holen. Als der Tunnel etwa einen Meter lang war, beschloss Laura, sich an die Oberfläche hochzuarbeiten. Trotz ihrer wärmsten Jacke klapperten ihr die Zähne. Ihr Gesicht und ihr Oberkörper waren bald vom tropfenden Wasser durchnässt.

Gegen Mitternacht durchbrach sie die oberste Schicht der Schneedecke. Hier war der Schnee weich wie Daunen und rieselte durch ihre steif gefrorenen Finger. Sie schaltete den Föhn aus und blickte sich um, erkannte schemenhaft ihren Garten und ihr Haus. Nur der Dachfirst ragte aus dem Schnee. Das Nachbarhaus und die Fichten waren in der Dunkelhaut kaum auszumachen. Keine Strassenlaternen erhellten die Schwärze, keine Autoscheinwerfer die Strasse. Dicke Flocken fielen auf Lauras Kopf. Mit dem Föhn in der Hand kletterte sie mühsam rückwärts durch das Loch zurück in ihr eiskaltes Schlafzimmer. Sie schloss das Fenster und beseitigte die Wasserlachen auf dem Boden. Anschliessend machte sie sich eine Wärmflasche und wickelte sich in die Sofadecke.

Wäre sie eine begabtere Bastlerin, würde sie sich Langlaufskier machen. Ob sich Bettlatten dafür eignen würden? Oder konnte sie Schneeschuhe aus einem Weidenkörbchen herstellen? Doch wo wollte sie überhaupt hin? Laura grübelte, bis sie vor Erschöpfung einschlief, das Summen des Föhns immer noch im Ohr. Wer weiss, vielleicht wäre der Spuk morgen schon wieder vorbei.

04/12/2023

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