Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Cornelia starrte in den Bildschirm ihres Laptops und richtete dabei den Blick in die Ferne, als entstünden so neue Bilder wie in den Magic-Eye-Büchern aus den 90er-Jahren. Sie hatten ihr regelmässig Kopfweh und tränende Augen beschert, während ihr Bruder mit hoher Stimme in ihr Ohr geschrien hatte: "Da ist ein Auto, siehst du es wirklich nicht?"
Nein, als Sechsjährige hatte sie die Bilder nicht sehen können. Später dann schon. Der Zauber hingegen war verflogen.
Doch darum ging es nun nicht. Sie musste den Text bis Mittag abgeben und der kleine Zeiger ihrer Armbanduhr näherte sich unaufhaltsam dem höchsten Punkt. Geschrieben hatte sie die Arbeit schon vor zwei Wochen. Der Text war fertig. Eigentlich. Doch letzte Nacht war sie aufgewacht und hatte im Halbschlaf die Textblöcke und Absätze umgestellt, Adverbien entfernt, Punkte eingefügt und den Zeilenabstand vergrössert.
Ihre Fingerkuppen schwebten über der Tastatur. Dann spürte sie eine Hand auf ihrer rechten Schulter. Sie drehte sich nicht um, nahm aber die Kopfhörer aus den Ohren.
"Sitzt du immer noch an der Arbeit?"
Cornelia spürte ein Stechen hinter ihren Augen. "Heute Nacht hatte ich einen Traum, in dem der Text ganz anders war. Besser. Richtig gut!" Sie drehte sich um und musterte die Falten, die der Schlaf ins Gesicht ihrer Freundin gedrückt hatte. Dann nahm sie deren Hand und drückte sie. "Ich lese das Ganze noch ein letztes Mal durch und verschicke es dann. Versprochen!"
Sie hörte nicht mehr, wie sich Mina entfernte. Cornelia hatte ihre Ohrstöpsel wiederum in die Ohrmuscheln gesteckt und scrollte an den Anfang des Textes. Absatz für Absatz ging sie das rund vier Seiten umfassende Dokument durch, entfernte hier einen Leerschlag, fügte dort einen Absatz ein.
Um 11.33 Uhr gab es nur noch einen offenen Punkt: die Überschrift. Sie gefiel ihr nicht wirklich. Sie klang sperrig, hölzern. Cornelia massierte ihre Schläfen und blickte an die Decke ihres Arbeitszimmers. Ihre Gedanken rotierten. 11.41 Uhr. Sie löschte die Überschrift, schrieb eine neue, löschte sie. 11.44 Uhr. In ihrem Hirn herrschte gähnende Leere. Noch ein Versuch. Dann würde sie das Ding abschicken. Ihr Internet funktionierte, wie sie mit einem Blick auf das WLAN-Symbol am unteren rechten Rand ihres Laptops feststellte. 11.50 Uhr.
Sie holte tief Luft und schrieb mit zittrigen Fingern. Dann drückte sie auf Speichern, auf das PDF-Symbol und öffnete das vorbereitete Mail. Rasch das PDF anhängen und auf Senden klicken. Uff. Cornelia lehnte sich zurück. Nun war es verschickt und es gab kein Zurück mehr.
In der Küche traf sie Mina, die mit verstrubbelten Haaren am Tisch sass und durch die Zeitung blätterte.
"Geschafft?"
Sie stand auf und nahm Cornelia in den Arm. "Gut gemacht." Mina nahm eine Tasse aus dem Schrank, schenkte Tee aus der grossen Kanne ein und drückte sie Cornelia in die Hand.
"Ich bin gespannt auf deinen Artikel." Mina lächelte.
Cornelia umfasste die dampfende Tasse mit beiden Händen. "Ich auch."
Ihr erster Text in einem Journal. Auf Englisch. Zwar nicht das wichtigste Fachmagazin in ihrer Branche, aber ein Anfang.
Das Klingeln ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Eine unbekannte Nummer. Cornelia zögerte, wischte dann über das Display und nannte ihren Namen. "Der Text? Den habe ich vor zehn Minuten verschickt?" Rote Flecken wanderten vom Hals in Richtung Stirn. "Wie, nicht lesbar??"
Wieder ein Klingeln, mehr ein Schrillen. Ihr Handy zeigte 6.10 Uhr. Cornelia rieb sich die Augen. Was für ein Albtraum! Sie öffnete noch im Bett ihre Mails. Eine Nachricht von der Redaktion des Journals. Ihr Artikel können nun leider noch nicht berücksichtigt werden. Wie bitte!? Sie hatte zwei Wochen an dem Text gefeilt und wollte ihn heute verschicken. Entschlossen warf sie die Bettdecke zurück und setzte sich an ihren Schreibtisch. Ihr Text war einwandfrei. Kein Wort würde sie daran ändern. Es gab noch andere Magazine. Die Journal-Redakteure würden sich noch ärgern. Cornelia verschickte, zwei, drei Mails und brachte dann Mina einen Tee ans Bett, die etwas später aufstehen musste.
"Hast du deinen Artikel verschickt?"
Cornelia nickte und blies in ihre Tasse.