Tinder oder Spam 2.0?

Eva runzelte die Stirn. Sie wollte das Mail mit dem Betreff "Klassentreffen" schon löschen, stutzte dann aber.

"Hallo Eva" stand da.

Und weiter: "Auf der Suche nach einer ehemaligen Schulkameradin namens Eva bin ich im Internet auf Ihr Foto gestossen. Ich war sofort fasziniert von Ihrer warmen Ausstrahlung und Ihrem ansteckenden Lächeln." Evas Augenbrauen verschwanden unter ihren Stirnfransen. Rasch las sie den Rest der Nachricht.

"Ich wollte Ihnen das nur kurz mitteilen und hoffe, Sie finden das nicht aufdringlich oder sogar frech. Ich wünsche Ihnen viel Gesundheit und alles Gute im neuen Jahr! Sandro"

Eva blickte auf das Datum, das ihr Computer rechts unten in der Leiste anzeigte. 27. März. Das neue Jahr war schon zu einem Viertel vorbei. Dieser Sandro verschickte seine Mails wohl schon seit längerem und hatte den Text nie angepasst. Wobei, die Ansprache war persönlich. An ihre Arbeits-Mailadresse geschickt. Sie ging rasch auf die Seite ihres Arbeitgebers. Betrachtete ihr Porträtbild, das auf der Seite "Team" ziemlich weit unten, bei der Abteilung Administration zu finden war. Ein professioneller Fotograf hatte es erstellt. Leider hatte er den Herpes auf ihrer Oberlippe nicht retuschiert. Sie lächelte gezwungen. So als hätte sie Schmerzen. Nein, kein gutes Bild.

Wie dreist die Spammer heutzutage waren. Eva löste ihren Haargummi und band ihren Pferdeschwanz neu, zupfte die Stirnfransen zurecht. Warum machten Menschen so etwas? Es war nicht einmal ein Link in der Mail. Ging es darum, die Empfänger zu verwirren? Sie besah sich den Absender. Eine unauffällige Bluewin-Adresse. Sie öffnete den Browser und tippte die Adresse ins Suchfeld. Sandro Rossis gab es einige. Sie klickte sich durch die Suchergebnisse und las dann noch einmal das Mail. Der Betreff passte überhaupt nicht. Wieso Klassentreffen? Eindeutig Spam, entschied sie und fuhr ihren Computer herunter.

Abends, als sie mit einer Wärmflasche und dicken Wollsocken im Bett lag und den Regentropfen lauschte, die gegen die Fenster ihrer Dachwohnung prasselten, fiel ihr das Mail wieder ein. Vielleicht war das doch kein Spam und dieser Sandro meinte wirklich sie? Was wohl passieren würde, wenn sie zurückschrieb? Sie hätte nichts zu verlieren, entschied sie und schlief spät ein.

Als sie am nächsten Morgen beim ersten Bürokaffee ihre Mails checkte, drückte sie kurzerhand auf "Antworten". "Hallo Sandro", schrieb sie. "Danke für Ihr Mail. Ich bin nicht sicher, ob Sie mich nicht verwechseln. Auf jeden Fall hoffe ich, dass Sie die gesuchte Eva finden. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Eva." Sie drückte auf den Sendebutton und vergass die Angelegenheit.

Bei ihrer vierten Tasse Kaffee, es war bereits nach 15 Uhr, ploppte ein Mail mit dem Betreff "Re: Re: Klassentreffen" auf. Eva legte den Buchhaltungsordner zur Seite und klickte darauf.

"Liebe Eva, ich freue mich, dass Sie mir antworten. Wie ich sehe, arbeiten Sie in Zürich. Zufälligerweise bin ich auf Geschäftsreise in der Gegend und übernachte heute im Hotel Schweizerhof. Darf ich Sie zum Abendessen einladen? Ich weiss, das kommt sehr kurzfristig. Seien Sie mir nicht böse, aber ich würde Sie sehr gerne kennen lernen. Ich hoffe, Sie sagen ja. Ihr Sandro."

Eva starrte auf ihre Armbanduhr. Dann wieder auf den Bildschirm. Heute Abend? Sie wollte es sich eigentlich zu Hause gemütlich machen und ihre Serie weiter gucken. Ein Abendessen im Schweizerhof? Was galt da für ein Dresscode? Und gab es da überhaupt etwas für Leute mit Laktoseintoleranz. Sie trank ihren Kaffee aus und überlegte. Dann gab sie sich einen Ruck. Ja, warum nicht? Ihr letztes Date lag schon eine Weile zurück. Und die Serie lief ihr nicht davon. Wenn es ein Flop war, würde sie immer noch eine Folge schauen können.

Sie verabredeten sich für 19 Uhr, tauschten Telefonnummern aus. Eva beendete ihren Arbeitstag etwas früher als sonst und fuhr aufgeregt nach Hause. 30 Minuten im Bad und fünf Kleiderproben später verliess sie ihre Wohnung im schwarzen Kleid mit den glitzernden High Heels. Ohne Herpes. Dieser Sandro würde staunen.

Erst kurz vor dem Schweizerhof kam die Unsicherheit. Wie würde sie ihn überhaupt erkennen? Was, wenn er nicht da wäre? Eva blieb stehen, nestelte an ihrer Handtasche herum. Schnäuzte sich. Dann gehe ich eben an die Bar, trinke ein Glas und verschwinde nach Hause. Eva stöckelte auf die Eingangstüre zu, die ihr ein Mann in rotem Livrée aufhielt. Sie ging zielstrebig den Schildern zum Restaurant «La Soupière» nach, wo sie sich mit Sandro verabredet hatte. Am Eingang sah sie sich um. Die Hälfte der Tische war besetzt. Einzelpersonen gab es mehrere. Sie zählte drei Männer. Einer hatte einen Laptop aufgeklappt vor sich, die beiden anderen ihr Handy. Keiner blickte auf.

Eva blieb stehen. Ein Kellner näherte sich ihr und fragte nach ihren Wünschen. "Ich bin verabredet. Mit Sandro..." Sie blickte den Kellner an und wurde rot. Dieser nickte höflich und führte sie an einen freien Tisch. Eva setzte sich und sah sich verstohlen um. Keiner der drei Männer sah zu ihr herüber. In dem Fall war Sandro noch nicht da. Es war ja gerade erst 19 Uhr. Er würde sicher gleich kommen.

Fünf Minuten später eine SMS. "Liebe Eva, ich bin leider etwas verspätet. Bestell dir bitte schon ein Getränk, ich bin gleich da." Eva seufzte und ging die Getränkekarte durch. Gin Tonic wäre jetzt das richtige für ihre Nerven. Eine lange Viertelstunde behielt sie abwechselnd ihr Handy und die Eingangstüre des Restaurants im Auge. Dann endlich trat ein einzelner Mann ein, der sich kurz umsah und dann zielstrebig auf ihren Tisch zusteuerte. Eva blinzelte. Er trug eine rote Nelke im Knopfloch seines Anzuges, eine Hornbrille und teure Schuhe. Flaum zierte seine Oberlippe und sein Kinn. Eva schluckte, als sie Sandro die Hand schüttelte. Was hatte sie erwartet? Einen älteren, gut situierten Herrn? Auf jeden Fall keinen Jüngling, der am Ende noch die Schulbank drückte. Sie kam sich vor wie die Lehrerin im Film "Reifeprüfung". Nur, dass der junge Dustin Hofmann eindeutig männlicher gewirkt hatte.

Eva stand auf. "Entschuldige, ich habe jemand anderen erwartet." Ohne auf die Reaktion ihres Gegenübers zu warten, eilte sie davon. Erst als sie zur Tür hinaus war, bemerkte sie, dass sie ihren Gin Tonic nicht bezahlt hatte. Ach, egal. Das konnte der junge Schnösel tun. Was für eine Frechheit ihr zu schreiben! Eva trippelte so schnell es ging zur Tramhaltestelle und zog ihren Mantel enger um sich. Zu Hause, als sie in eine Decke gewickelt vor dem Fernseher sass, überlegte sie, was passiert wäre, wenn sie geblieben wäre. Dann fuhr sie mit der Hand über ihren Hals, der schon lange nicht mehr so straff war, wie sie es sich wünschte. Nein, junge Männer machten noch älter. Da war sie lieber alleine. Sie hatte ja noch ihre Serie.

27/03/2023

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