Smalltalk

Die Schiebetür glitt lautlos zur Seite. Sabrina betrat den Raum, blickte kurz zum Kronleuchter an der Decke, dann zur Glasfront, die eine Wand des Raums bildete. Davor nichts als Grau. Der Nebel hatte sich vor das Bergpanorama geschoben und liess den späten Nachmittag gefühlt zu Abend werden. Sabrina blieb stehen, sah sich um. Menschen. Der Saal war voll davon. Die meisten standen rund um das Buffet. Sie sah aufgespiesste Mozzarellakugeln und Cherrytomaten eingequetscht zwischen Basilikumblättern. Daneben Trauben und kreisrund ausgestochene Melonenstücke, ebenfalls auf Zahnstocher gesteckt. Und dann die unvermeidliche Brottorte. Der Käse am Rand der gestapelten Sandwiches sah gelblich-hart aus.

Sabrina ging nochmals die Fragen durch, die sie sich bei der Anreise im Zug überlegt hatte. Sie wollte auf keinen Fall in die "Und was machst du beruflich?"-Falle tappen. Sondern persönliche Fragen stellen. Solche, wie: "Was gefällt dir an deinem Job?" Oder: "Was ist dir wichtig im Leben?", "Was willst du machen, wenn du pensioniert bist?" In ihrem Buch klang das alles ganz einfach. War ja nichts dabei. Einfach fragen! Doch hier, inmitten all den Teilnehmenden des Kongresses, sah es anders aus. Was wäre, wenn ihre Fragen total unpassend wären? Wenn die Angesprochenen gar nichts Persönliches preis geben wollten? Oder, fast noch schlimmer: Wenn die Antworten langweilig wären? Sie hatte sich bereits überlegt, wie sie sich elegant aus der Affäre ziehen könnte. Nett verabschieden und gehen, hatte das Buch vorgeschlagen. Genau so wollte sie es machen.

Sabrina holte sich ein Glas Weisswein von einem der Tabletts und lief an kleineren und grösseren Grüppchen vorbei. Stimmengewirr flutete den Saal. Ob bei dem Lärm überhaupt eine Unterhaltung möglich wäre? An einem Stehtisch sah sie eine einzelne Frau: blond, mittelalt, Business-Kostüm. Sabrina stellte sich vor sie: "Darf ich mich zu Ihnen gesellen? Sie scheinen ebenfalls ohne Begleitung da zu sein."
Die Frau schluckte den Rest ihres Käse-Salami-Sandwiches hinunter und fuhr sich durch die Haare. "Wo denken Sie hin? Ich würde niemals alleine an einen solchen Anlass gehen. Das wäre glatter Selbstmord!" Sie nahm ihren Teller vom Tisch und verschwand Richtung Buffet. Sabrina schüttelte den Kopf. Was war das gewesen? Na ja, im Buch hatte es geheissen, dass man nicht jeden Menschen interessant und sympathisch finden würde.

So, jetzt wollte sie es wissen. Sabrina ergriff ihr Glas und schlenderte zu einer Vierergruppe Anzugträger in der Nähe, die sich augenscheinlich prächtig amüsierten. Als Sabrina sich vorstellte stiessen sie mit ihr an, einer schaute ihr kurz auf den Busen, dann redeten sie weiter über ein Fussballspiel. Sabrina hatte keine Ahnung. Sie mochte keinen Fernsehsport. Und auch keinen ohne Fernseher. "Was interessiert Sie denn neben Fussball im Leben?", fragte sie den Mann mit der bordeauxroten Krawatte links von ihr. Er runzelte die Stirn, drehte sich dann zu ihr um und schob die Unterlippe vor. "Es gibt nichts Besseres als Fussball. Formel 1 ist auch okay." Dann rückte er von Sabrina ab und lachte über einen Witz, den sie nicht verstand.

Okay, gegen Fussball kam Sabrina nicht an. Kategorie uninteressant, gemäss Buch. Sie ging durch den Saal zum Buffet und liess sich ihr Glas nachfüllen. Ein wenig Mut antrinken war in Ordnung, hatte im Buch gestanden. Betrunken sein hingegen nicht. Wieder sah Sabrina sich um. Es musste doch eine Person hier geben, bei der sie ihr frisch erworbenen Smalltalk-Kenntnisse ausprobieren konnte? Zwei Frauen, die in Jeans und T-Shirt gekleidet waren, standen am Rand des Buffets und schauten in unterschiedliche Richtungen. Perfekt! Sabrina stellte sich vor die beiden hin. "Guten Abend, ich heisse Sabrina Weber und würde gerne mit Ihnen ein wenig Smalltalken. Was halten Sie davon?" Die beiden Frauen wandten sich ihr zu und verzogen keine Miene. An Sabrinas Hals tauchten rote Flecken auf, sie spürte sie, ohne sie zu sehen. Hatte sie das eben wirklich gesagt? Sie schluckte und lächelte weiter vor sich hin, so als wäre nichts passiert. War das zweite Glas Wein eine schlechte Idee gewesen? Sabrina schielte nach unten. Es war fast leer.

"Noch jemand, der sich langweilt", sagte die linke der beiden Frauen und stiess mit Sabrina an. "Du hast ja nichts mehr, komm wir holen dir Nachschub." Dann zog sie Sabrina am Arm Richtung Buffet. Die andere Frau blickte ihnen nach, schaute in ihr Glas und kam dann hinterher. Sie füllten ihre Gläser und traten dann an die Fensterscheibe, hinter der der Nebel nach wie vor stockdick hing. "Hast du etwa dieses Buch gelesen? Das mit den 150 Fragen?", wollte eine der beiden Frauen von Sabrina wissen. Diese nickte. "Dämliches Buch, das kannst du vergessen", meinte nun die andere. Sabrina liess die Mundwinkel hängen. Sollte sie kampflos aufgeben? Sie prostete den Frauen zu und schob sich dann eines der Spiesschen mit Melone in den Mund. "Was ist dir denn wichtig im Leben?", wandte sie sich an diejenige, deren Pony fast bis auf die Augenbrauen reichte. Und dann hörte sie zu. Mindestens zwei Gläser und drei Spiesschen lang. Genau so, wie es im Buch gestanden stand.

22/05/2023

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