Über den ersten Brief hatte sie noch gelacht. Na gut, ein wenig mulmig war ihr schon geworden, als sie das A4-Blatt mit den sorgfältig ausgeschnittenen und aufgeklebten Buchstaben und Wörtern auseinander faltete. Dem Schrifttyp nach wohl aus der Sonntagszeitung. Diese las das halbe Dorf und gab ihr keine näheren Hinweise auf den Absender. Ihre Adresse auf dem grauen Umschlag war auf ein Etikett gedruckt. Schrift Arial, auch sehr unauffällig. Den Poststempel konnte sie nicht entziffern, die blaue Farbe war verwischt. Mit A-Post verschickt. Also dringend oder wichtig.
Beate las sich die Botschaft, die in ungleich grossen Buchstaben vermittelt wurde, noch einmal durch:
"Ich weiss genau, was du jeden Abend machst. Bald werden alle davon erfahren!!"
Sie rieb sich die Stirn. Was machte sie denn jeden Abend? Spontan kamen ihr Fernsehen und Zähneputzen in den Sinn. Manchmal eine Tüte Chips oder eine Tafel Schokolade auf dem Sofa. Die Psycho-Krimiserie. Aber das konnte doch damit nicht gemeint sein? Spielte die Person etwa auf ihre frühere Tätigkeit als Lehrerin im Nachbardorf an? Zugegeben, ihr Abgang dort war unschön gewesen. Die letzten Monate hatten ihr zugesetzt. Sie hätte diesen Chat nicht ins Leben rufen dürfen, hätte sich zurückhalten sollen. Zum Schluss hatte sie eine Abmahnung kassiert. Aber das war doch Schnee von gestern. Oder etwa nicht?
Sie legte den Brief zur Seite und ging zur Tagesordnung über. Bald hatte sie ihn vergessen. Vielleicht hatte sich ja jemand einen bösen Scherz erlaubt. Ein ehemaliges Schulkind. Oder ein erboster Elternteil.
Dass dem nicht so war, realisierte sie wenige Wochen später, als sie einen weiteren grauen Brief mit Arial-Etikett aus dem Briefkasten fischte. Kein Absender. Abgestempelt in der Stadt, die dem Dorf am nächsten lag. Beate riss den Umschlag mit dem Zeigefinger auf und zog das gefaltete Blatt heraus. Ein eigentümlicher Geruch stieg auf. Beate schnupperte. Er erinnerte sie an Krankenhauskaffee.
Ihre Finger zitterten unmerklich, als sie den Papierbogen auffaltete. Die aufgeklebten Buchstaben tanzten vor ihren Augen. Sie atmete tief ein. "Letzte Warnung. Gib es zu oder es ist aus mit dir!!" Beate liess den Brief fallen. Dann nahm sie ihr Telefon. Doch wen sollte sie anrufen? Ihre beste Freundin aus Kindertagen, die sie in den letzten Jahren aus den Augen verloren hatte? Ihren Exfreund, der inzwischen eine neue Liebschaft hatte? Ihre Bekannten aus der wöchentlichen rhythmischen Gymnastik, mit denen sie jeweils nach dem Training in gemütlicher Runde ein Glas Wein trank? Oder ihre Mutter, die seit zwei Jahren im Altersheim lebte und sie bei ihren Besuchen immer seltener erkannte? Beate liess das Telefon sinken. Dann ging sie in die Küche, öffnete den Schrank und angelte nach einer Tafel Schokolade. Traube-Nuss. Sie riss die Verpackung auf und biss gierig hinein. Tränen vermischten sich mit Kakao. Sie schniefte.
Keine zwei Tage später traf der dritte Brief ein. Gleicher Umschlag, gleiches Prinzip. "Du wirst mich niemals finden", stand da in fetten Lettern. Was sollte das denn nun? Wusste der Briefeschreiber (oder die Briefeschreiberin fügte Beate in Gedanken hinzu), dass sie ihm auf der Spur war?
Beate beschloss, nichts weiter zu unternehmen. Sie sass abends mit Schokolade oder Chips vor dem Fernseher und schaute ihre Krimis, ging in die Gymnastik und besuchte ab und an ihre Mutter. Dass diese doch nicht so dement war wie es schien, realisierte Beate kurz vor Weihnachten.
"Hast du das mit den Drohbriefen in der Zeitung gelesen?", fragte sie Beate. "Wir haben doch tatsächlich auch einen ins Altersheim geschickt bekommen. Unsere Weihnachtsbeleuchtung dürfe nicht die ganze Nacht brennen. So ein Blödsinn!"
Mit Spuckefäden in den Mundwinkeln erzählte sie weiter. "Er hat dem ganzen Gemeinderat Drohbriefe geschrieben, stell dir das vor! Zum Schluss sogar von Hand. Anhand der Schrift haben sie ihn entlarvt. Den Toni von Zimmer 106. Dabei hat der doch immer seine Kreuzworträtselhefte mit allen geteilt. Nein, sowas!"
Beate stutzte. "Der Toni? Woher hatte er denn all die Adressen?"
"Aus dem Internet, sagt die Polizei. Er hat doch diese Computerkurse für Senioren besucht. Da lernt man sowas."
"Und was passiert nun mit ihm?" Beate schaut ihre Mutter fragend an, diese blickt an ihr vorbei aus dem Fenster.
"Wie bitte? Kennen wir uns? Ich heisse Helga. Und Sie?"