Mittwochs kommt immer die Putzfrau in Leas Wohnung. Für zwei Stunden, jede Woche. Sie reinigt die Böden der 3-Zimmer-Wohnung, putzt das Bad und poliert die Abdeckungen in der Küche auf Hochglanz. Lea hat sie sich nach einer Beförderung vor drei Jahren quasi selbst geschenkt. Als Vollzeitangestellte in der Chefetage eines Pharmariesen hatte sie schlichtweg keine Zeit mehr, um ihre Wohnung regelmässig auf Vordermann zu bringen. Die Wäsche, der Einkauf und die Zubereitung der Mahlzeiten frassen bereits einen grossen Teil ihrer freien Zeit; sie beschloss, die Tätigkeit, die sie am wenigsten mochte, auszulagern. Seither kommt Marianne jede Woche in Leas Reich und hinterlässt einen zitronigen Duft, der Lea jeweils empfängt, wenn sie abends nach Hause kommt.
Anfangs hatte sie Skrupel. Einer wildfremden Person den Wohnungsschlüssel überlassen? Aber hallo! Sie prüfte die Referenzen von Marianne, befragte sie, googelte sie. In den ersten Monaten nahm sie ihren privaten Laptop mit zur Arbeit. Ihren Schmuck versteckte sie in einem ausgehöhlten Buch - ein Trick aus dem Pfadfinderlager. Mit der Zeit wurde sie nachlässiger, überprüfte ihre Verstecke nicht mehr jeden Mittwochabend. Marianne schien eine zuverlässige Person. Lea sah sie nach dem Vorstellungsgespräch zwar nur einmal, als sie mit einer Grippe im Bett lag, doch sie wirkte vertrauenswürdig. Lea findet die Wohnung stets ordentlich und sauber vor, Mariannes Abrechnung kommt pünktlich.
Inzwischen freut sich Lea bereits am Dienstagabend auf Mariannes Besuch, so als würde sie sie persönlich treffen. Manchmal stellt sie sich am Mittwochvormittag im Büro vor, wie Marianne ihre Wohnung aufsperrt und den Staubsauger aus dem Putzschrank holt. Wie sie Leas Lippenstifte auf der Ablage vor dem Badezimmerspiegel mustert, die Hand ausstreckt und sie dann wieder sinken lässt. Sie fühlt sich Marianne nah, ohne sie zu kennen. Vielleicht liegt es daran, dass sie Zugang zu meinen persönlichsten Dingen hat? Lea schüttelt den Gedanken ab.
Abends, beim Aufschliessen der Wohnung, fehlt etwas. Lea legt den Kopf schief. Der Duft nach Zitronen, der sie an Sizilien erinnert, liegt nicht in der Luft. Ob Marianne ein neues Putzmittel benutzt? Als Lea die Tür hinter sich schliesst, wird schnell klar: Hier hat heute niemand geputzt. Auf dem Teppich im Flur tummeln sich bei genauerem Hinsehen Flusen und Haare, so wie heute morgen. Lea greift nach ihrem Handy, tippt darauf herum und hält es sich ans Ohr. Dann legt sie es auf die Kommode im Flur. Vielleicht ist Marianne krank und hat ihr nicht Bescheid gegeben? Sie schreibt ihr eine Nachricht mit der Bitte um Rückruf.
Die erhoffte Antwort bleibt aus. Zu den Flusen auf dem Flurteppich gesellen sich Fussel und weitere Haare. Lea hofft auf den nächsten Mittwoch, den Staubsauer lässt sie im Putzschrank. Das ist Mariannes Revier. Der Mittwoch kommt und geht. Der Teppich bleibt ungesaugt. Ob Marianne etwas passiert ist? Lea überlegt, sie zu Hause aufzusuchen. Als sie bei der angegebenen Adresse am anderen Ende der Stadt ankommt, gibt es keine Marianne auf den Klingelschildern. Lea überlegt. Dann beschliesst sie, zur Polizei zu gehen. Ob sie eine Vermisstmeldung oder eine Anzeige aufgeben möchte, wird sie dort von einem dicklichen Herrn mit Schnauzbart gefragt. Lea ist unschlüssig. Was weiss sie über Marianne? Ihren Nachnamen. Und ihre Bankverbindung. Ob bei ihr zu Hause etwas fehle, will der Polizist weiter wissen. Lea verneint. Dann solle sie sich doch eine neue Putzfrau suchen, gibt ihr der Schnauzbart mit auf den Weg. Das sei doch keine grosse Sache.
Für ihn vielleicht nicht. Für Lea hingegen schon. Immer wieder probiert sie, Marianne am Telefon zu erreichen, lässt es lange läuten. Lea ist inzwischen sicher, dass Marianne etwas passiert ist. Sie hätte ihr sonst sicher ihren Wohnungsschlüssel zurückgegeben. Lea saugt und wischt ihre Böden halbherzig an den Wochenenden selber, schaut im Internet nach Putzinstituten, kann sich aber nicht durchringen, sich irgendwo zu melden.
An das ausgehöhlte Buch hatte sie nicht mehr gedacht. Zu selten trug sie ihren wirklich wertvollen Schmuck. Als sie es aus dem Regal nahm und es aufklappte, lag in der Aussparung ihr Wohnungsschlüssel. Von ihrer Cartieruhr und den Brillantohrringen keine Spur. Lea fischte einen sorgsam zusammengefalteten Zettel heraus. "Tolles Versteck", entzifferte sie. Unterschrieben war schwungvoll mit "Marianne".