Die Amsel

Amseln können Regenwürmer im Boden kriechen hören, hat Rosa letztens irgendwo gelesen. Sie beobachtet ein Weibchen, das durch das kleine Stück Garten vor ihrem Küchenfenster hüpft, den Kopf schräg hält, als würde es lauschen, weiterhüpft und pickt. Plötzlich hat die Amsel etwas im Schnabel, flattert im Nu auf und verschwindet aus Rosas Blickfeld.

Rosa trinkt ihren Tee zu Ende und macht sich auf den Weg ins Bad. Der Spiegelschrank knarzt, die Schubläden unterhalb des Waschbeckens rumsen. Der Schuhlöffel klirrt und die Kleiderbügel in der Garderobe berühren sich dumpf singend. Mit dem Klimpern des Wohnungsschlüssel in der Tasche tritt Rosa durch die Tür und zieht diese mit einem satten Rums zu. Es wird still in der kleinen Erdgeschosswohnung.

Ob es die gleiche Amsel ist, die Rosa wenige Tage später, an einem schönen Aprilmorgen im Garten sieht, kann sie nicht sagen. Sie weiss immerhin, dass es sich wegen der braunen Schnabelfarbe um ein Weibchen handelt. Während der Teedampf die Scheibe beschlägt, steht Rosa dicht vor dem Fenster und traut sich nicht, sich zu rühren, aus Angst, den Vogel zu verscheuchen. Dieser fliegt mit Grashalmen im Schnabel in die Hecke, die ihre Wohnung zur Strasse hin abschirmt. Offenbar baut sie sich in einem besonders dichten Ligusterstrauch ein Nest. Rosa freut sich und versucht, den raschen Bewegungen der Amseldame mit den Augen zu folgen. Die Blätter und Zweige des Ligusters bewegen sich, dann wird es ruhig. Zu gerne würde sich Rosa dem Strauch nähern und einen Blick hineinwerfen. Doch sie hat Angst, die Amsel zu vertreiben.

Es wird für Rosa zu einem Ritual, täglich nach dem Amselweibchen Ausschau zu halten. Noch einmal sieht sie den Vogel eifrig mit kleinen Zweigen und verdorrten Halmen zum Liguster fliegen, dann nicht mehr. Rosa steht Tag für Tag am Fenster, an ihren freien Tagen stellt sie einen Stuhl davor, um mehr Zeit zum Schauen zu haben. Doch das Amselweibchen ist nicht mehr zu sehen. Ob es bereits brütet und das Nest nur ganz kurz verlässt? Müsste da nicht auch ein Amselmännchen sein? Rosa schaut und hofft, informiert sich im Internet über die Dauer der Brutzeit. Sie trinkt Tee und schaut aus dem Fenster.

Vier Wochen später beschliesst sie, einen Blick in den Liguster zu werfen. Das kurz geschnittene Gras ist noch feucht vom Tau, ihre Birkenstocksandalen sind dunkel gesprenkelt, als sie die Zweige des dichten Busches vorsichtig auseinander biegt. Ein Büschel Halme in einer Astgabel verraten ihr, wo die Amsel mit dem Nestbau begonnen hat. Einige davon liegen ein Stockwerk tiefer auf einer niedrigeren Astgabel. Hier brütet wohl kein Vogel, stellt Rosa fest. Die Enttäuschung kriecht in ihr hoch, die klammen Zehen in den feuchten Socken merkt sie kaum.

In den nächsten Wochen steht Rosa oft am Fenster und schaut sich um. Sie vermisst die Amsel. Warum hat sie ihren Nestbau unterbrochen? War der Platz doch nicht so gut? Hat eine der vielen Katzen im Quartier sie erwischt? Oder hat sie die Nähe von Rosa gespürt und fühlte sich bedroht?

Rosa bläst in ihre Teetasse, versetzt die Oberfläche in Schwingung und lauscht ihrem Atem. Eine Taube gurrt in der Ferne. Ein feiner Nieselregen legt sich lautlos über die Hecke vor ihrem Fenster. Es wird langsam heller, der Verkehr nimmt zu. Rosas Tee ist kalt geworden.

06/05/2024

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