Der Gärtner

Völliger Blödsinn, ging es Nicole durch den Kopf, als sie den Gärtner auf dem Nachbargrundstück beobachtete. Gärtner sind doch keine Mörder. Dieser hier auf jeden Fall nicht. Sah zumindest nicht so aus. Warum gab es diese Redewendung überhaupt? Da war doch dieses Lied gewesen. Ihre Mutter hatte den Sänger gerne gemocht. Sie kam gerade nicht auf den Namen. Deutsch. Mit Gitarre. 70er-Jahre.

Nicole beobachtete den Mann in grüner Arbeitskleidung durch das Fenster. Er hatte Äste von einer Weide abgesägt und auf das Grundstück plumpsen lassen. Die laubfreien Zweige streckten sich hilfesuchend in den winterlichen Himmel, die angeschnittenen Stellen am Stamm leuchteten durch das Dezembergrau bis zu ihr hinüber. Nun lehnte der Gärtner die ausgezogene Aluleiter an das Gebäude, verlängerte sie mit einem Ruck um einen weiteren Meter. Er stieg mit einem gelben Plastikeimer in der Hand routiniert die Sprossen hinauf.

Nicole zwang sich, den Blick auf ihren Bildschirm zu richten. Die Tabelle mit der Auslastung der Schultransporte im letzten Halbjahr musste bis heute Abend fertig sein. Ihr fehlten immer noch die Zahlen von drei Gemeinden. Zudem gefiel ihr das Design nicht. Auch das Logo der Schule musste sie noch einfügen. Nicole seufzte. Dabei war Homeoffice eine wunderbare Erfindung. Sie genoss den einen Tag pro Woche, an dem sie sich die 30-minütige Autofahrt zum Sekretariat des Gymnasiums sparen und in Ruhe zu Hause arbeiten konnte. Nicht Gefahr lief, die geschwätzige Kunstlehrerin Inge Schmidt im Aufenthaltsraum oder an der Kaffeemaschine zu treffen. Nicht den ewigen Lästereien über andere Lehrpersonen oder Schülerinnen und Schüler lauschen musste. Oder gefühlt drei Mal am Tag wegen Papierstau in den Kopierraum gerufen wurde. Mit Abstand am Schlimmsten: Mit aufgebrachten Eltern telefonieren zu müssen, die mit der Benotung ihrer Sabrina oder ihres Tims nicht einverstanden waren. Als ob sie da etwas machen könnte.

Sie ertappte sich dabei, wie sie wieder aus dem Fenster schaute und die Arbeiten gegenüber beobachtete. Der Garten war mit Maschendrahtzaun umgeben und gut einsehbar. Der Gärtner entfernte nun in luftiger Höhe nasses Herbstlaub aus der Dachrinne und warf es in den Eimer. Er setzte die Leiter um, stieg erneut hinauf. Ziemlich wackelig, dachte Nicole noch. Dann passierte alles in Zeitlupe. Kurz vor dem Erreichen der Dachrinne rutschte der Mann von einer der Sprossen, sein Oberkörper kippte nach hinten. Er fasste mit der Hand nach der Leiter, riss sie nach hinten und kippte unendlich langsam mitsamt der Leiter um. Wie im Zirkus, fand Nicole, die das Geschehen mit offenen Mund beobachtete. Dann knallte die Leiter auf den Zaun, der Mann fiel ausserhalb des Grundstücks auf die Strasse und blieb reglos liegen.

Nicole blinzelte einige Male, so als wollte sie sicher gehen, dass sie nicht träumte. Dann stand sie auf, rannte zur Wohnungstür, schlüpfte in Jacke und Schuhe und lief die Treppe hinunter, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Sie umrundete das Grundstück und stand dann vor dem dunkelgrün gekleideten Mann, der so aussah, als hätte er sich nur kurz für ein Schläfchen hingelegt. Mitten auf der Strasse, den Henkel des halb mit Blättern gefüllten Eimers umklammert. Sie bückte sich und schüttelte ihn vorsichtig am Arm. "Alles in Ordnung mit Ihnen?"

Der Mann zuckte, schaute sich mit grossen Augen um, blickte Nicole verwirrt an. Dann stand er auf, stellte den Eimer ab und klopfte seinen Arbeitsanzug aus. Er betrat das Grundstück durch das Gartentor, packte die Leiter und stellte sie erneut gegen die Hauswand. Den eingedrückten Zaun beachtete er nicht. Der Gärtner machte Anstalten, hinaufsteigen, stellte jedoch fest, dass ihm der Eimer fehlte. Nicole hielt ihm den erstaunlich schweren Eimer über den Zaun hinweg hin. "Danke", murmelte der Mann, dann wandte er sich ohne ein weiteres Wort ab, erklomm die Leiter und schöpfte erneut Blätter aus der Dachrinne.

Nicole blieb noch eine Weile auf der Strasse stehen und beobachtete ihn. Dann ging sie zurück in ihre Wohnung, holte ihren Computer aus dem Ruhemodus und starrte auf ihre Tabelle. Kurze Zeit später schaute sie erneut hinüber in den Nachbarsgarten. Der Gärtner war verschwunden, die Leiter ebenso. Nur der eingedrückte Zaun bewies ihr, dass sie nicht geträumt hatte.

18/12/2023

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