Der Boden unter ihren Füssen vibrierte. Mona suchte nach der Ursache der Erschütterung und wurde fündig: Ein grauhaariger Mann links von ihr, der den Stuhl komplett ausfüllte, stampfte mit dem Fuss rhythmisch aufs Parkett. Na bravo, dachte sie und blickte ins Publikum. Waren da noch andere, die den Boden wie beim Linedance bearbeiten? Nein natürlich nicht. Der einzige, der hier mitschunkelte, war der 120-Kilo-Brocken neben ihr. War ja klar. Mona rutschte auf ihrem Sitz nach vorne und stellte ihre Füsse weit unter den Stuhl des Vordermanns in der Hoffnung, das Klopfen weniger stark zu spüren.
Drei Songs später hatte sich an der Situation nicht viel verändert. Vielleicht sollte sie einfach mitmachen? Mona klopfte vorsichtig im Takt der Musik, die von den grossen Lautsprechern neben der Bühne in den Saal geworfen wurden, auf ihre Oberschenkel und hob die Fussspitzen abwechselnd an. Die Band spielte einen letzten Akkord, verbeugte sich in den Nebelschwaden, die vom Rand der Bühne in den Raum gepustet wurden und verschwand. 20 Minuten Pause. Mona griff nach ihrer Tasche und drängelte sich an dem von der Musik offenbar sehr angetanen Mann und seiner Begleitung vorbei, die die Pause augenscheinlich lieber auf ihren Stühlen verbrachten.
Der Vorraum des Kongresshauses war von vielschichtigem Stimmengesumme erfüllt. Sektgläser berührten sich klirrend. Man sass in weissen Ledersofas. Mona stand nach dem Besuch der Damentoilette unschlüssig herum. Es war keine gute Idee gewesen, alleine auf das Konzert zu gehen. Wenn sie wenigstens Zeit gehabt hätte, Ersatz für ihre kranke Freundin zu suchen. Diese hatte ihr erst am Nachmittag abgesagt; sie habe Fieber und könne sich schlecht in einem vollen Konzertsaal aufhalten. Das verstand Mona. Da das Ticket 80 Franken gekostet hatte, war für sie andererseits auch klar: Sie würde gehen. Dann eben alleine. Das war zwar nicht so lustig wie zu zweit, aber kein Weltuntergang.
Endlich erklang der rettende Gong, der alle zurück in den Saal rief. Mona drückte sich an den Knien des schweren Mannes vorbei, um zu ihrem Sitz zu gelangen. Immerhin war zwischen ihr und dem Mann ein Platz frei. Der ihrer Freundin, die krank im Bett lag.
Die Band kam wieder auf die Bühne, spielte Hit um Hit. Mona war froh um die langsameren Stücke, bei denen es links von ihr keinen Anlass gab, den Boden zu bearbeiten. Sie blickte immer wieder auf ihre Uhr. Sollte sie noch vor dem Ende des Konzerts aufbrechen? Eigentlich war sie nur ihrer Freundin zuliebe hier, die ein grosser Fan der Band war. Endlich der Schlussapplaus. Stehende Ovationen. Die obligate Zugabe. Zwei Klassiker, bei denen das Publikum mitsang und -klatschte. Sogar Mona liess sich mitreissen.
Dann endlich gingen die Lichter im Saal an und das Publikum erhob sich, um auf die Ausgänge zuzuströmen. Mona nahm ihre Tasche und stand ebenfalls auf. Der Mann links neben ihr blieb sitzen. Bevor sie sich vorbeidrücken konnte, stand er auf und füllte den kompletten Raum zwischen den Stuhlreihen aus. Er war nicht nur breit, sondern auch gross, wie Mona nun feststellte. Sie wartete. Dann blickte sie zum anderen Ende der Stuhlreihe, die weiter vom Ausgang entfernt war. Ebenfalls Stau. Die Sitzreihe vor ihr hatte sich bereits geleert. Mona kletterte kurzerhand über die Lehne vor ihr und konnte es dabei nicht vermeiden, mit den Schuhen auf das Stuhlkissen zu treten.
"Passen Sie doch auf!", fuhr der Mann sie an. Seine Frau blickte vorwurfsvoll durch ihre dicken Brillengläser. "Das hier ist keine Turnhalle, also klettern Sie gefälligst nicht wie ein Affe herum, sondern warten Sie wie ein zivilisierter Mensch." Mona starrte ihn an. Dann verengten sich ihre Augen zu Schlitzen. "Sie sollten besser schweigen. Geschlagene eineinhalb Stunden auf den Boden trampeln wie ein Elefant. Das gehört sich Ihrer Meinung nach also?!" Sie funkelte abwechselnd den Mann, dann seine Begleiterin an. Diese reagierten in Zeitlupe. Erst öffnete sich der Mund der beiden wie bei Fischen im Aquarium, dann sahen sie einander an. Noch bevor sie etwas erwidern konnten, war Mona zum Ausgang geeilt und hatte den Konzertsaal verlassen.
"Hat die mich eben als Elefant bezeichnet, Martha? Was für eine Unverschämtheit!" Der Mann stampfte mit dem Fuss auf und wrang seine Jacke zwischen den Händen. "Beruhig dich, Theo. Nicht alle Menschen wurden zu Rücksicht erzogen." Seine Frau tätschelte seinen Arm. "Komm, wir trinken noch etwas an der Bar. Der Abend war so schön, lass ihn dir nicht verderben." Knurrend folgte der Mann seiner Frau die Treppe zum Ausgang hinauf. Er schüttelte sich. Was sich die jungen Leute heute alles erlauben. So eine Frechheit!