Es hatte ihr keine Ruhe gelassen. Sie wollte diese Angelegenheit klären. Auch wenn sie dafür ins Flugzeug steigen und nach Barcelona fliegen musste. Gesagt, getan. Nun stand sie in einem Aussenbezirk der Stadt vor der Tür eines älteren Mehrfamilienhauses und drückte zum dritten Mal auf den Klingelknopf neben dem vergilbten, unleserlichen Schild. Nichts regte sich.
Verdammt! Lidia war hoffentlich nicht umgezogen. Nein, sie war nur unterwegs, verabredet, im Schwimmbad. Ob sie immer noch so viel Sport trieb wie früher? Als Meike sie während ihres Auslandsemesters in Barcelona kennengelernt hatte, war Lidia ständig unterwegs gewesen. Auf Parties, am Strand oder beim Joggen. Was sie nun wohl machte? Ob sie sich Mann und Hund zugelegt hatte? Am Ende sogar Kinder? Meike verzog den Mund und drückte erneut auf den Klingelknopf.
Dann setzte sie sich auf die oberste Treppenstufe vor dem Hauseingang. Sie würde warten. Sie musste Lidia noch einmal sehen und mit ihr sprechen. Ihr sagen, dass es ihr leid tat, was damals passiert war. Dann würde sie das nächste Flugzeug nach Hause nehmen. Und könnte die Angelegenheit endlich vergessen. Es sei wichtig, hatte ihr der Psychologe gesagt, dass sie aufräume. Mit all dem, was gewesen ist. Nur so könne sie sorgenfrei in die Zukunft schauen und selbstbestimmt weiterleben.
Zunächst hatte sie eine Liste geschrieben. Mit all ihren Ex-Partnern und -Partnerinnen, ehemaligen Mitbewohnerinnen und Studienkollegen. Dann hatte sie die Namen eingekreist, bei denen Schuldgefühle aufgekommen waren. Das, hatte ihr der Psychologe erklärt, wäre ein Signal ihres Körpers, das sie nicht länger ignorieren dürfte. Sie musste sich ihren Altlasten stellen. Nur so würde sie ein besserer Mensch werden. Und das wollte Meike, um jeden Preis. Neu anfangen.
Sie hatte recherchiert und telefoniert, sich erklärt, entschuldigt. Manche Gespräche waren länger gewesen, andere kürzer. Komisch war es Meike vorgekommen, die Stimmen von Früher zu hören. Sie müsse die Emotionen aushalten, die hochkämen, hatte es in der wöchentlichen Therapiesitzung geheissen. Nach etwa drei Monaten war es geschafft. Die Liste war abgearbeitet. Nur ein einziger Name stand noch darauf: Lidia aus Barcelona. Diese erreichte sie weder per Mail, Telefon oder Instagram. Also war sie zum Flughafen gefahren. Sie würde die Sache zu Ende bringen.
Als die Strassenlaternen aufflammten und die Gasse in gelbes Licht tauchten, erwachte Meike aus ihrer Erstarrung. Ihr war kalt. Lidia war nirgends zu sehen. Meike sehnte sich nach einer Dusche und einem Bier und ein paar Tapas. Vielleicht sollte sie auf die Suche nach einer Bar gehen? Sie könnte später zurückkehren und es erneut probieren. Als sie gerade mit steifen Beinen die Treppe hinabsteigen wollte, öffnete sich die Haustür und ein junger Mann trat heraus. "Hola", begrüsste ihn Meike auf fragte ihn auf Spanisch, ob er wisse, ob Lidia zu Hause sei. "Hier wohnt keine Lidia", sagte der dunkelhaarige Mann und musterte sie misstrauisch. Er müsse es wissen, fügte er hinzu, immerhin wohne er schon seit fast fünf Jahren in diesem Mietshaus.
Er liess Meike stehen, schloss sein Fahrrad auf und fuhr davon. Meike starrte ihm nach. Vielleicht hatte Lidia sie durch das Fenster gesehen und ihn geschickt, um ihr das zu sagen? Oder sie wohnte wirklich nicht mehr hier. Verdammt! Was war nun mit ihrem neuen Leben? Sollte sie unverrichteter Dinge abreisen? Was würde ihr Psychologe sagen? Sicher, dass sie es nicht richtig versucht hatte. Tränen schossen ihr in die Augen. Dann schlurfte sie die Strasse entlang und bog in die Hauptstrasse ein. Immerhin Bier und Tapas würde sie sich gönnen, wo sie schon einmal hier war. Und Lidia würde sie von ihrer Liste streichen, als erledigt betrachten. Die Sache war verjährt. Ausserdem war es doch eigentlich gar nicht Meikes Schuld gewesen, dass sich Lidias Freund damals in sie verknallt hatte. Da war sie im Grunde selber schuld, sie hatte ja nie Zeit für ihn gehabt. Ja, genau so war es.
Die Holztür der Bar quietschte, als Meike eintrat. Sie sah sich um und fing an zu lächeln. Gut, dass sie hergekommen war.