Wenn die Acht nach Eukalyptus schmeckt

Bis ich sieben war, dachte ich, es wäre normal. Dass alle Menschen die Welt so wahrnehmen würden wie ich. Die Vier rot, die Neun braun, die Zehn orange. Mir gefällt besonders die Acht gut, sie schillert in Regenbogenfarben und wirkt stets gut gelaunt. Ausserdem schmeckt sie herrlich frisch nach Eukalyptus. Also, es ist nicht so, dass ich sie in Gedanken esse. Vielmehr habe ich einen Hustenbonbongeschmack auf der Zunge, wenn ich mir eine Acht vorstelle oder sie mir morgens beim Kaffeetrinken auf dem Display meines Handys begegnet.

Dass Zahlen für die meisten Menschen farb- und geschmacklos sind, fand ich an einem Geburtstagsfest heraus. Eine Schulfreundin lud mich ein. An der Lampe über dem Esstisch waren Girlanden befestigt, die aus lauter Achten bestanden. Auf der Schwarzwälder Kirschtorte, die sich meine Freundin gewünscht hatte, prangte eine Acht aus Schokoladenspänen. Und auf den Servietten neben den Tellern tummelten sich Achten mit Augen und Armen, die tanzten und lachten.

Ich blieb neben dem Tisch stehen. Das Regenbogengewitter mit Eukalyptusgeschmack war überwältigend. Als ich schliesslich sass und das Stück Sahnekuchen auf meinem Teller anstarrte, wusste ich, dass es nicht gehen würde. "Das passt einfach nicht zusammen", murmelte ich und liess die Schultern hängen. "Was passt nicht?", fragte meine Nachbarin zur Rechten. Den Rest kannst du dir vorstellen. Seither weiss ich, dass mein Gehirn ein klein wenig anders funktioniert. Dass bei mir Sachen miteinander verknüpft sind, die eigentlich nicht zusammengehören. Ich bin Synästhesistin. So heisst das offiziell.

Das klingt nun so, als würde ich darunter leiden. Doch, nein! Im Gegenteil. Wenn mir beispielsweise langweilig ist, dann lasse ich Zahlen vor meinem geistigen Augen aufmarschieren, mische ihre Farben und Aromen, immer wieder neu. Die meisten Ziffern sind freundlich. Nur ein paar wenige mag ich nicht. Zum Beispiel die 19. Sie ist dunkelgrau und wirkt deprimiert. Ihr Geschmack ist muffig-erdig. Definitiv nicht meine Lieblingszahl. Dabei ist sie eine Primzahl. Die schätze ich eigentlich besonders. Die 31 beispielsweise strahlt wie eine Sonne und schmeckt nach Himbeeren. Oder die 54. Sie ist ozeanblau und erinnert an Popcorn.

Manchmal nervt meine spezielle Gabe aber auch. Wenn ich beispielweise beim Lesen eines Buches oder eines Artikels auf eine Zahl stosse. Sie lenkt mich augenblicklich ab, ich verliere den Faden, muss von vorne beginnen. In einem Selbsthilfekurs hat man uns gezeigt, wie man die Bilder unterdrücken kann. Das mache ich manchmal, wenn ich nicht abgelenkt werden will. Bei einer Präsentation. Oder an der Supermarktkasse. Es ist anstrengend. Und eigentlich auch schade. Denn ich mag meine bunte Welt mit den vielen Geschmäckern. Mir tun alle Menschen leid, deren Zahlen einfach nur Zahlen sind. Sie verpassen etwas, definitiv.

Morgen feiere ich übrigens meinen 50. Geburtstag. Meine Tochter hat mich vor ein paar Tagen gefragt, welchen Kuchen ich mir wünsche. Keine Schwarzwälder Kirschtorte, soviel steht fest. Denn die 50 passt definitiv nicht dazu. Mehr verrate ich nicht. Okay, ein kleiner Tipp: Es ist orange, teuer und wird von Hand geerntet. So, jetzt höre ich aber auf. Ich melde mich wieder, versprochen! Spätestens in einem Jahr. Dann verrate ich dir, was die 51 in mir auslöst und welcher Kuchen dazu passt 🙂

30/01/2023

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