Der Rock des Mädchens war nach oben gerutscht. Das war das erste, das Silvia auffiel. Ein Stück des weissen Slips war zu sehen. Silvia ging langsamer, blieb aber nicht stehen. Das Mädchen, das mit aufgeschürften Knien auf dem rauen Pflaster des Bahnhofsplatzes lag, weinte. Seinen Oberkörper hatte es vornübergebeugt, die Schultern bebten. Ob etwas passiert war? Oder war es nur wieder eine Drogensüchtige auf Entzug? Diese lungerten regelmässig im Park hinter dem Bahnhof herum, räumten ihren Müll nicht weg und belegten die sonnigen Bänke. Wenn Silvia mit ihrem Dackel zu einem Spaziergang aufbrach, machte sie meistens einen grossen Bogen um den kleinen Park. Auch wenn er die einzige Grünfläche in Gehdistanz zu ihrer Wohnung war.
Heute war Silvia ohne Hund unterwegs. Sie musste für einen Arbeitstermin den Zug nach Solothurn erreichen. Die lauten Schluchzer des Mädchens liessen sie schliesslich stehen bleiben. Silvia, die den Platz schon halb überquert hatte, drehte sich um. Das Mädchen sass nun und hielt seine Knie umklammert. Seine blonden Haare waren zerzaust, dunkle Make-up-Streifen zeichneten sich auf den Wangen ab. Wie alt sie sein mochte? Der Grösse nach mindestens 15. Silvia blickte sich um. Eine alte Frau mit einem Einkaufstrolley steuerte auf das Kind zu, sprach es an. Silvia verstand die alle Worte, die gewechselt wurden, dafür war sie zu weit entfernt. Aus den Gesten und ein paar Wortfetzen entnahm sie, dass das Mädchen ausgeraubt worden war. Ein Mann hatte ihr die Handtasche entrissen und sie war gefallen.
Nach einem Blick auf die Uhr war Silvia klar, dass sie sich beeilen musste, sofern sie rechtzeitig vor Abfahrt ihres Zuges das Perron erreichen wollte. Unschlüssig drehte sie ihre Armbanduhr am linken Unterarm hin und her. Dann machte sie kehrt und eilte Richtung Bahnhofshalle. Nun ja, was sollte man machen? Die Tasche des Mädchens war weg und würde auch nicht mehr auftauchen. Es gab einfach zu viel Gesindel am Bahnhof. Sie hielt die Träger ihres modischen Rucksackes fest, während sie die Rolltreppe hinaufeilte, die zu den Gleisen führte. Und das Mädchen hatte ja nun Unterstützung. Silvia hätte ihr eh nicht helfen können. Die Tränen würden bald trocknen, die Schürfwunden verheilen. Silvia musste den Zug erreichen. Das hatte definitiv Priorität.