Vom Beobachten des Beobachters

Manfred liebt es, andere Menschen zu beobachten. Besonders gerne tut er es im Freibad. Hinter seiner dunklen Sonnenbrille und mit dem Strohhut auf seinem fast kahlen Kopf kann er seine Blicke ungeniert schweifen lassen. Der Muskelprotz ist wieder da, wie er befriedigt feststellt; er hat das kurze Ende des Beckens zu seiner Bühne gewählt und stolziert dort auf und ab. Sein Körper wirkt aufgeblasen wie ein Luftballon, findet Manfred. Was für Gewichte der wohl täglich stemmt? Manfred schaut an seinem weichen, weissen Körper hinab. Er kratzt sich am Bauch und lässt seinen Blick in die andere Richtung wandern. Am Sprungturm hat sich eine Schlange gebildet. Eine Gruppe junger Männer und Frauen vollführt Vorwärts- und Rückwärtssaltos vom Fünf-Meter-Brett. Es platscht, Wasser spritzt, es wird gekreischt und applaudiert. Manfred sieht eine Weile zu. Das hätte er sich nie getraut, früher, als er noch jung war.

Er öffnet die Kühlbox, die neben seinem Klappstuhl steht und nimmt eine Dose heraus. Es zischt beim Öffnen, dann trinkt er gierig vom Lemon Soda, das er heute Morgen zusammen mit einem Salamibrot in die Box gepackt hat. Ob er davon bereits einen Bissen nehmen soll? Manfred blickt auf seine Armbanduhr. Fürs Mittagessen ist es noch zu früh.

Auf den Stühlen vor dem Badrestaurant hat eine Familie Platz genommen. Sie reden so laut, dass Manfred ihr Italienisch bis zu seinem Stuhl unter der schattigen Buche hören kann. Obwohl Picknicken hier verboten ist, packt die Mutter, deren Bikini nur aus wenig Stoff besteht, Baguettes aus dem Supermarkt, Schinken und Tomaten aus. Dann bereitet sie Sandwiches für die ganze Familie zu. Ihr Mann sitzt daneben und raucht. Während Manfred noch überlegt, ob auf dem Restaurantareal ein Rauchverbot gilt, fällt sein Blick auf zwei Jungen, die sich am Rand des tiefen Beckens um eine Taucherbrille streiten. Der Kampf endet, als der Grössere den Kleineren kurzerhand ins Wasser stösst. Der Sieger rennt mit seiner Beute davon und taucht in den Trubel im Nichtschwimmerbecken ein. Manfred hofft, dass der Verlierer schwimmen kann und überlegt, ob er ins Wasser springen würde, sofern dieser nicht in Sekunden an die Oberfläche käme. Wohl nicht. Er hasst kaltes Wasser. Ausserdem ist er kein guter Schwimmer. Und tauchen kann er auch nicht.

Nach einem erneuten Blick auf seine Uhr öffnet er seine Kühlbox und entnimmt ihr sein Brot. Während er es sorgfältig aus der Klarsichtfolie wickelt, hält er inne. Er fühlt sich komisch, irgendetwas ist anders als sonst. Langsam dreht er den Kopf nach links, dann in die andere Richtung. Und tatsächlich: Am anderen Ende des Beckens sitzt eine Frau auf einer Bank und schaut ihn an. Da sie keine Sonnenbrille trägt, ist eine Verwechslung ausgeschlossen. Manfred blinzelt und wartet. Die Frau starrt weiterhin zu ihm herüber. Sekunden verrinnen. Manfred ist unfähig, sich zu bewegen. Er spürt kalten Schweiss in seinem Nacken und zwingt sich schliesslich, den Blick zu senken und sich auf sein Salamibrot zu konzentrieren. Zögernd nimmt er einen Bissen und schiebt das trockene Brot und die salzige Wurst im Mund hin und her.

"Stört es Sie, wenn ich mich zu Ihnen setze"? Die Frau von der Bank steht plötzlich neben ihm. Ohne seine Antwort abzuwarten, breitet sie ihr Handtuch aus und hockt sich neben Manfred, der sie ungläubig anschaut. "Wissen Sie, ich beobachte Sie schon eine Weile. Sie tun dies offenbar genauso gerne wie ich." Sie lacht und streckt die Hand aus. "Ich heisse Maria." Manfred putzt sich umständlich seine fettigen Finger an der Badehose ab und räuspert sich dann. "Manfred." Langsam lässt er seine Hand sinken.

Maria kramt in ihrer Badetasche und holt einen Apfel heraus. "Zu zweit macht das doch noch mehr Spass, finden Sie nicht?" Sie beisst herzhaft in das Obst und schmatzt dabei. Manfred runzelt die Augenbrauen. So hatte er sich seinen Tag im Freibad nicht vorgestellt. Dann nimmt er einen weiteren Bissen von seinem Brot und kaut bedächtig. Maria wirft er dabei verstohlene Seitenblicke zu. Sie war ihm bisher gar nicht aufgefallen. Eine Beobachterin also. Soso.

26/08/2024

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