Hoffentlich ist er da. Ladina presst die Lippen zu einen schmalen Strich zusammen und eilt zu der Lücke im Zaun, die sich unter den tiefen Ästen eines Holunderbaums versteckt. Sie zwängt sich hindurch, ein schemenhafter Schatten in der Dämmerung, nur beobachtet von einer dreifarbigen Katze, die sich auf einer nahen Mauer zusammengerollt hat. Dann eilt Ladina durch das feuchte Gras hinauf zur Ruine. Sie klettert über die vertrauten Tuffsteine, das Zirpen der Grillen dröhnt in ihren Ohren. Sie schnauft und schaut. Die Mauerreste von San Peder ragen zackig in den auberginefarbenen Himmel.
Ladina ahnt es bereits. Sie nimmt die letzten Meter im Laufschritt, dann steht sie in der Ruine der alten Kirche von Sent. Der viereckige, grasige Platz wirkt wie eine Arena. Eine leere Arena. Gion ist nicht da.
Ladina schnieft und stolpert über den unebenen Boden zu einem Loch in der Mauer. Sie versucht, nicht an Spinnen und Käfer zu denken und greift hinein, spürt bröckeligen, feuchten Mörtel, sonst nichts. Gion hat ihr keine Nachricht hinterlassen.
Sie lässt die Schultern hängen und lehnt sich an die Mauer, die noch die Wärme der Sonne gespeichert hat. Ihre Tränen wischt sie grob mit Zeige- und Mittelfinger ab, dann presst sie die Fäuste auf die Augen.
«Ladina.» Sie spürt den vertrauten Körper in der zunehmenden Dunkelheit mehr, als dass sie ihn sieht. Gion geht vor ihr in die Hocke und pflückt eine Holunderblüte aus ihrem dunklen Haar. Der vertraute, herbe Geruch nach Schafgarbe umgibt ihn.
«Du bist gekommen.» Sie betrachtet seine braunen Augen mit den goldenen Sprenkeln, seine Grübchen, in die sie so gerne die Fingerkuppen legt. Auch im Dunkeln erkennt sie das flaumige Haar unterhalb seiner Schläfen, das sie immer an ein Katzenbaby erinnert. Gion zieht Ladina hoch und gemeinsam klettern sie an ihren Platz an der tiefsten Stelle auf dem Mauerrest. Von hier aus ist das ganze Tal zu sehen, der Inn rauscht tief unten, Bergspitzen ragen in die Dunkelheit.
Nur eine dreifarbige Katze beobachtet, wie ein Mädchen und ein Junge kurz vor dem Morgengrauen das Grundstück durch eine verborgene Zaunlücke verlassen. Sie lösen die Hände nur widerwillig voneinander und eilen in unterschiedliche Richtungen durch das schlafende Dorf davon. Die Katze gähnt, streckt die Vorderbeine und springt von der Mauer. Zeit, nach Hause zu gehen.