Manchmal, wenn Ingrid im Bett liegt und nicht einschlafen kann, stellt sie sich vor, wie das Blut in ihrem Körper durch die Venen und Arterien jagt. Angestachelt durch Stromschläge ziehen sich die Herzkammern zusammen, saugen Luft aus den Lungen und sorgen dafür, dass der rote Strom unablässig pulsiert. Sie hört das Dröhnen der Herzklappen und das Rauschen des Blutes, lässt sich Mitreissen im blutigen Strudel, der in jede Zelle vordringt und ihr sekündlich beweist, dass sie lebt.
Manchmal schläft sie dabei ein, treibt auf einem roten Ozean dahin und beobachtet die dickflüssigen Wellen. In letzter Zeit passiert dies jedoch kaum mehr. Denn im Meer lauert etwas, das dort nicht hingehört. Zu viel Fett, um es profan auszudrücken. Und zwar jenes von der schlechten Sorte. Ingrids LDL-Wert ist zu hoch, hat ihr der Arzt vor mehreren Monaten beschieden. Viel zu hoch. Sie sollte angesichts ihrer Lebensumstände etwas dagegen unternehmen. Was denn für Lebensumstände, hatte sie mit gerunzelter Stirn gefragt und von ihrem Stuhl nach oben zum Mann im weissen Kittel geblickt, der am Schrank stand und ihr den Rücken zukehrte.
Zu wenig Bewegung und Übergewicht, hatte er geantwortet und über die Schulter zu der mittelalten Frau geblickt, die ihre Finger um ihre Handtasche auf dem Schoss krampfte.
Ingrid war keine Antwort eingefallen. Zu wenig Bewegung, ja, das könnte schon sein. Seit Maxl, ihr treuer Dackel, gestorben war, ging sie nur noch selten spazieren. Aber das mit dem Übergewicht fand sie frech, ja fast schon anmassend! Sie blickte an sich hinab, ihren kerzenförmigen Leib, den sie stets in weite Blusen und Hosen mit Gummizug hüllte. Sie solle ihre Ernährung umstellen, hörte sie noch aus weiter Ferne. Das Rauschen ihres Blutes durchdrang sie, war überall. Sie umklammerte den Henkel ihrer Tasche, so dass die Knöchel weiss hervortraten. Dann stand sie vor der Arztpraxis, eine Broschüre über cholesterinarme Ernährung in der Hand und blickte sich ratlos um. Wann fuhr nochmal der Bus?
Die Broschüre war auf den Stapel Gratiszeitungen gewandert, der sich manchmal wochenlang in Ingrids Wohnung auftürmte. Sie verdrängte den Gedanken an ihre Blutfettwerte, an das, was der Arzt gesagt hatte. Sie erzählte niemandem davon. Nicht, dass es jemanden interessiert hätte. Als Buschauffeurin hatte sie zwar Kollegen und wenige Kolleginnen, die sie aber nur beim Schichtwechsel sah oder denen sie auf der Strasse beim Kreuzen zuwinkte. Abends machte es sich Ingrid am liebsten zu Hause gemütlich. Seit Maxl nicht mehr war, hatten zwar auch die Fernsehabende, zu denen sie sich manchmal Pralinen gönnte, an Qualität verloren, aber das war nun mal so. Man musste zufrieden sein im Leben mit dem, was man hatte. Das hatten ihr ihre Eltern beigebracht, ohne je darüber gesprochen zu haben.
Nur abends im Bett tauchen die Gedanken an ihr ungünstiges Blutfett auf und nisten sich in ihrem Kopf ein. Ingrid ist ihnen hilflos ausgeliefert. Sie überlegte, sich ein anderes Entspannungsritual zuzulegen. Beispielsweise Schäfchen zu zählen oder in Gedanken ihre üblichen Busstrecken rauf und runter zu fahren. Doch so sehr sie auch probierte, der mahnende Zeigefinger des Arztes blieb. In ihrer Vorstellung verstopfen ihre Gefässe mehr und mehr, so dass bald kein Durchkommen mehr ist. Ingrid wacht immer wieder schweissgebadet auf.
Die Routinekontrolle beim Arzt hätte sie beinahe abgesagt. Doch sie gab sich einen Ruck und sitzt bald darauf wieder im Sprechzimmer und wartete auf den Arzt, der ihr die Laborergebnisse mitteilen würde.
Bravo, Frau Schneitheim, Sie haben sich ja richtig ins Zeug gelegt. Ihre Cholesterinwerte sind im Rahmen des Grenzwertes, das heisst, viel tiefer als bei der letzten Messung. Weiter so, hört Ingrid den Arzt sagen. Sind Sie sich sicher?, fragt sie zaghaft und blickt nach oben.
Wenig später sitzt sie im Bus nach Hause. Die Häuser rauschen vor dem Fenster vorbei, während sie in ihre Handtasche greift und eine Tafel Schokolade herausholt. Sie blickt sich um, reisst die Packung und die Silberfolie auf und bricht ein Stück ab. Heimlich steckt sie es sich in den Mund und geniesst den cremig-süssen Geschmack. Sie kontrolliert, dass der Buschauffeur nichts davon mitbekommt und nimmt ein zweites Stück. Als sie aussteigt, ist von der Tafel Schokolade nur noch ein Knäuel übrig. Ingrid seufzt. Heute Nacht wird sie wieder gut schlafen können.