Die Dunkelheit und Stille hier unten liebe ich besonders. Die Zeit scheint stehen zu bleiben, wenn ich mich durch enge Gänge und entlang von unterirdischen Bächen immer tiefer in den Berg hinein bewege. Meine Füsse sind nass, meine Fingerspitzen kalt. Doch das stört mich nicht. Ich bin konzentriert, fühle mich wie eine Katze, die nachts auf Mäusejagd geht. Hunger, Durst und Müdigkeit spüre ich nur am Rand. Pausen lege ich ungern ein. Denn immer gibt es ein Ziel, wenn ich im Berg unterwegs bin: Einen Seitenarm, in dem ich noch nie war. Oder eine Engstelle, für die ich in der richtigen Verfassung sein muss. Es kann auch sein, dass ich neue Fixseile montiere, Sicherungsmaterial wie Haken oder Klammern anbringe. Ich bin ja nicht der Einzige, der diese Höhle besucht. Und wenn ich in fremden Höhlen zu Gast bin, freue ich mich, wenn sie durch lokale Speläologen eingerichtet worden ist.
Wann ich meine Leidenschaft für die Unterwelt entdeckt habe? Das kann ich gar nicht genau sagen. Schon als Kind suchte ich mir die engsten und unbequemsten Orte beim Verstecken spielen. Zum Beispiel im Schrank der Schwester, der chronisch überfüllt war. Oder ich zwängte mich unter das Bett meines Grossvaters, wo sich die anderen nicht hin trauten. Oder in eine Kiste mit alten Büchern auf dem Dachboden. Die Enge und der Staub schenkten mir Geborgenheit. Ich spürte mein Blut rauschen und hoffte, es würde lange gehen, bis mich meine Geschwister oder Freunde entdecken würden. Was meistens auch so war.
Meine ersten Höhlenerfahrungen sammelte ich in einem verlassenen Bunker im Wald, wo wir als Kinder oft spielten. Der Eingang war nur so gross wie ein Gullydeckel und führte schräg nach unten. Ich staunte, wie viel Mut es manche meiner Freunde kostete, die unterirdische, betonierte Kammer zu betreten. Mein bester Freund Paul verweigerte sich komplett. Das sei nichts für ihn, meinte er und musste dann dringend nach Hause. Wir fanden einmal einen halb verwesten Fuchs im Bunker. Er war wohl hineingefallen und nicht mehr herausgekommen. Es stank fürchterlich.
Mit der Schule besuchte ich eine Tropfsteinhöhle und war total aus dem Häuschen. Am liebsten hätte ich die Höhle an diesem Tag nicht mehr verlassen, wäre in die unbeleuchteten, abgesperrten Seitenarme vorgedrungen und hätte stundenlang die zerbrechlichen Stalaktiten bewundert, die über unseren Köpfen hingen. Mein Pate unternahm schliesslich meinen ersten richtigen Höhlenausflug mit mir. In das Rote Loch gingen wir, ausgerüstet mit Gurt, Seil, Helm und Stirnlampen. Sie heisst so, weil das Gestein eisenhaltig ist und herrlich rot leuchtet, wenn das Licht darauf fällt. Es gab zwei Abseilstellen und einen engen Gang, durch den man krabbeln musste. Ich kam dreckverkrustet, aber glücklich nach Hause und bat meinen Paten bald wieder mit mir loszuziehen. Ich war in den nächsten Jahren noch einige Male mit ihm unterwegs.
Schliesslich war ich alt genug, um mich dem Speläologenverein anzuschliessen. Mich ausbilden zu lassen, wie man Höhlen erschliesst, welches Material Wasserkontakt am längsten erträgt, wie man sich bei Regen verhält und wo man Höhlenpläne und Tipps erhält. Ein Mal im Monat steht ein gemeinsamer Ausflug in eine Höhle auf dem Programm. Ich habe kaum einen verpasst. An den übrigen Wochenenden bin ich allein oder mit Freunden unterwegs. Wenn ich viel Zeit habe und mich von meiner Nase führen lassen will, am liebsten alleine. So wie heute. Ins Schullerloch bin ich eingestiegen, am Vormittag. Nach rund vier Stunden war ich in der grossen Kammer, einer riesigen Halle, die einer Kathedrale gleicht. Hier gibt es einen Seitenarm, er liegt ganz links und ein wenig erhöht. Den wollte ich schon immer mal erforschen. Informationen darüber habe ich kaum erhalten. Von meinen Bekannten war noch niemand dort.
Ich kletterte am Rand der grossen Kammer ein wenig über Schutt, bis ich mich in den Einstieg hangeln konnte. Zunächst war der Gang breit, wurde dann aber schon bald enger und stieg steil an. Ich kletterte an den glitschigen Felsen entlang hinauf und gelangte zu einem kleinen, offenen Raum. Danach: ein Abgrund. Ich leuchtete ihn aus, um abzuschätzen, wie tief er war. Dann beschloss ich, es zu riskieren. Ich befestigte mein Seil an einer Sanduhr im Fels und glitt geräuschlos in die Tiefe, voller Vorfreude, auf was ich unten stossen würde.
Plötzlich ein Schlag, dann Schwärze. An mehr erinnere ich mich nicht. Meine Schulter schmerzt, der Boden ist nass. Ich taste nach dem Seil an meinem Gurt, es ist nicht mehr da. Meine Stirnlampe scheint zerbrochen. Ich weiss, ich darf nicht einschlafen. Doch die Stille lullt mich ein. Ich werde die Augen schliessen. Nur für einen Moment.