Von einem Tag auf den anderen stand er vor der Tür, wie ein ungebetener Gast, dessen eindringliches Klopfen man am liebsten ignorieren würde. Der Herbst streckte seine klammen Finger aus, fuhr durch Kleidung und Haare und bedeckte Gesichter mit Nieselregen.
Hannes beobachtete durchs Bürofenster aus eine Frau, die im Wind mit ihrem Regenschirm kämpfte. "Scheiss Wetter", murmelte seine Kollegin Brigitte und legte die Stirn in Falten. Dann trommelten ihre Finger wieder auf die Tastatur.
So ganz verstand Hannes nicht, warum der Herbst zu den weniger beliebten Jahreszeiten gehörte. Er selbst freute sich jeweils schon im Hochsommer auf die kühleren Tage, an denen er abends eine Kerze anzündete und ZZ Top hörte. Wie ein Kind frohlockte er über die bunten Blätterhaufen, die sich an den Strassenecken sammelten. Das Licht war im Herbst besonders schön. Die Landschaft wirkte frischer, gesünder, ausgeruhter. Es gab seine Lieblingsäpfel im Laden um die Ecke und Kürbisse in allen Grössen und Formen. Was wollte man mehr?
"Weniger grauer Himmel wäre zum Beispiel schön", kam nun von rechts. Hannes wandte sich Brigitte zu. Hatte er laut gedacht? Das passierte ihm ab und zu, vor allem dann, wenn er sich freute. "Mir fehlt im Herbst die Sonne und die Wärme." Brigitte schüttelte sich, als sässe ein unliebsames Insekt auf ihrer Schulter. Sie floh im Winterhalbjahr stets für einen Monat nach La Gomera. Ihre zweiten Heimat. Nach der Pensionierung wollte sie ganz dort bleiben, wie sie bei fast jeder Gelegenheit erwähnte. Sie hatte sich eine Wohnung gekauft. Nun wartete sie, dass die Zeit verginge.
Immer warm und sonnig, das wäre Hannes viel zu anstrengend. Er blieb stumm und beugte sich erneut über die Excel-Tabelle, die ihm der Chef heute Vormittag in die Hand gedrückt hatte. "Die Zahlen sind zu schlecht", hatte er mit hoher Stimme gesagt. Dabei waren die Zahlen in Ordnung, da war sich Hannes sicher. Als Buchhalter mit eidgenössischen Fachausweis hatte er ein Händchen für Ziffern. Er hob das Blatt hoch. "Weisst du, was damit nicht stimmen soll?"
Brigitte nahm ihm das Blatt aus der Hand und setzte ihre Lesebrille auf, die sie immer an einem Band um den Hals trug. "Das ist doch die Exportbilanz? Die habe ich erstellt, da stimmt alles!" Sie gab ihm das Papier zurück und wandte sich erneut ihrem Bildschirm zu.
Hannes Blick schweifte erneut aus dem Fenster. Die Strassenbeleuchtung war inzwischen angestellt worden. Zeit, nach Hause zu gehen und sich ein Süppchen zu kochen. Sein Kühlschrank gab nicht viel her. Vielleicht sollte er auf dem Weg zum Bahnhof noch im Bio-Laden vorbeigehen. Dort gab es doch dienstags immer frisches Sauerteigbrot.
"Sauerteigbrot? Ich liebe es!", hörte er Brigitte von rechts seufzen. Mist, er hatte wohl schon wieder Selbstgespräche geführt. Hannes stand auf und nahm seine Tasche. "Na dann, bis..."
Brigitte unterbrach ihn: "Warte, ich mache auch Schluss." Sie fuhr halb im Stehen ihren Computer herunter und zog sich ihre Jacke über.
Hannes zögerte. Während er noch versuchte, zu begreifen, stand Brigitte mit einem Lachen im Gesicht vor ihm und hakte sich bei Hannes unter, sobald sie auf den Gehweg vor dem Bürogebäude getreten waren. "Ich freue mich wirklich über deine Einladung zum Essen. Warum hast du nur so lange damit gewartet?" Sie kicherte.
Hannes ging weiter, ohne etwas zu sagen. Er würde einen Termin beim Arzt abmachen und sich durchchecken lassen. Oder war lautes Denken eher ein Fall für den Psychologen? Hatte er Brigitte Hoffnungen gemacht, ohne es zu merken? Aber vielleicht ging es hier ja doch nur um Sauerteigbrot. Sonst wäre seine Arbeitskollegin bei diesem herbstlichen Wetter wohl kaum bereit, den Umweg zum Bio-Laden auf sich zu nehmen.
Hannes schielte auf seine Uhr, während Brigitte ungerührt weitersprach. Mit etwas Glück wäre das Brot bereits ausverkauft; es wäre nicht das erste Mal, dass Hannes um diese Uhrzeit leer ausging. Dann könnte er Brigitte höflich verabschieden und sich auf Kerzen und ZZ Top freuen.
"ZZ Top war die erste CD, die ich mir von meinem Taschengeld gekauft habe!" Brigitte strahlte Hannes an. Dieser zog den Kopf ein und wünschte sich statt dem feinen Nieseln einen Platzregen herbei. Eine Sintflut. Hagel. Sturm. Egal.