Das Unwetter

Schon am Nachmittag ahnte ich, dass sich etwas zusammenbraute. Der Himmel war noch blau, die Wölkchen unaufgeregt. Wenig später wurde es so dunkel, dass mein Mensch das Licht im Wohnzimmer anknipste. Ich war zu dem Zeitpunkt bereits auf dem Weg nach draussen. Mit einem gedämpften Klappern schloss sich die Katzenklappe hinter mir und ich machte mich quer durch den Garten auf den Weg zur angrenzenden Wiese. Als die ersten dicken Tropfen die drückend heisse Luft durchpflügten, duckte ich mich unter das Dach eines säuberlich geschichteten Holzstapels am Waldrand. Dann sah ich Blitze zucken, es trommelte und rauschte. Die Erde bebte, der Berg grollte und trieb eine stinkende Lawine aus Schlamm und Geröll ins Tal. Von meinem sicheren Platz am Waldrand aus hörte ich Felsbrocken aneinanderschlagen, sich gegenseitig anschieben und über die Wiese donnern.

Irgendwann wurde es stiller. Nur noch das stetige Tropfen des Regens auf meinem Wellblechdach drang an meine Ohren. Auf der Wiese gluckerte es. Ich beschloss, noch ein wenig an meinem trockenen Plätzchen auszuharren, mich zusammenzurollen und den nächsten Morgen abzuwarten. Schon bevor die Sonne aufgegangen war, hatte ich den Holzstapel verlassen. Die einstmals grüne Wiese war von Schlamm bedeckt, das Geröll hatte tiefe Furchen durch das Land gezogen. Ich überkletterte sie mühselig, sank mit meinen Pfoten immer wieder ein und schüttelte mich innerlich. Nasse Füsse hatte ich noch nie gemocht.

Beim Garten meines Zuhauses angekommen, setzte ich mich und schaute lange. Das Haus war bis zu den Fenstern im ersten Stock verschüttet. Graue Steine in allen Grössen stapelten sich wirr im Gemüsegarten und auf der Terrasse. Die Katzenklappe war unerreichbar. Ich gebe zu, nun miaute ich einige Male verzweifelt. Wo war mein Mensch? Wo meine Fressnäpfe mit Huhn und Lachs?

Ich beschloss, meinen sicheren Platz unter dem Dach des Holzstapels erneut aufzusuchen. Doch diesen Platz kannten auch andere. Als ich dort ankam, war er bereits von Peter, einer dicklichen Nachbarskatze besetzt. Zunächst freute ich mich, ein anderes Lebewesen zu sehen. Doch Peters Gesellschaft war mir schon bald verleidet. Also streunte ich herum. An den Schneisen in den Wiesen und Gärten und an den verschlammten Strassen entlang bis hinab zum See, wo sich Holz, Steine und Morast am Ufer stapelten. Die Menschen wuselten wie Ameisen durch das Chaos. Sie redeten, zeigten, weinten. Ob einer davon mein Mensch war? Plötzlich vermisste ich meinen Menschen ungemein und fing, ohne es zu wollen, wieder laut an zu maunzen.

Ich gebe zu, ich liess mich übertölpeln. Doch mein Hunger meldete sich plötzlich mit derartiger Vehemenz, so dass ich den Käfig um mich herum erst wahrnahm, als es bereits zu spät war. Satt werden stand nun an erster Stelle. Später folgte ein schaukelnder Transport, zunächst wurde ich getragen, dann gefahren. Gegen Nachmittag sah sich ein Mann meinen Hals genauer an, nickte und lächelte. Kurz darauf traf ich meinen Mensch, der mich in den Arm nahm und fest drückte. Ich hielt ausnahmsweise still.

Ins Haus mit dem schönen Garten sind wir bisher nicht zurückgekehrt. Wir wohnen bei einer Familie mit einem Hund, den ich jedes Mal anfauche, wenn er um die Ecke biegt. Er wedelt mit dem Schwanz, egal, was ich mache. Zum Holzstapel gehe ich nicht mehr, er ist ein ganzes Stück entfernt. Den dicken Kater Peter habe ich auch nicht mehr gesehen. Während ich darüber nachdenke, ob ich ihn vermisse, gähne ich und rolle mich auf meinem neuen Lieblingsplatz auf dem Bücherregal zusammen.

19/08/2024

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