Blackout

Manchmal träumt sie davon: Sie steht morgens vor der Kaffeemaschine und weiss nicht mehr, wie sie funktioniert. Welcher Knopf bedeutet was? Wo muss man Wasser einfüllen? Oder, noch schlimmer, ein richtiger Alptraum: Sie nimmt ein Buch und beginnt zu lesen. Doch in ihrem Kopf entstehen keine Wörter, die sie versteht. Alles bleibt ein grosses Durcheinander, so als wäre das Buch in einer Fremdsprache verfasst. Dabei weiss sie genau, dass sie die Wörter kennt. Es entstehen einfach keine Bilder, so als ob eine Verbindung gekappt wäre. Dann wacht sie jeweils mit klopfendem Herzen auf.

Tagsüber denkt sie nicht mehr daran; sie streift die Angst ab wie eine zu enge Haut und funktioniert. Bis zu jenem Tag, einem Mittwoch. Sie hatte eine wichtige Präsentation, anschliessend stand ein Mittagessen mit dem Kunden in ihrer Agenda. Alles lief wie am Schnürchen, der Kunde war zufrieden, der Vertrag so gut wie unterschrieben. Sie brachen auf, um den Geschäftsabschluss im Restaurant zu feiern: sie, ihr Chef und der Kunde. Wo sie denn reserviert habe, fragte ihr Chef auf dem Weg zum Lift beiläufig. Sie erschrak, da sie sich nicht erinnerte, nahm ihr Handy und scrollte durch ihre Mails. Keine Reservierungsbestätigung. Sie hatte wohl telefonisch reserviert. In dem Fall in ihrem Lieblingsrestaurant zwei Strassen weiter. Ohne zu wissen, ob tatsächlich Plätze auf ihren Namen bestellt waren, betrat sie mit ihrer Begleitung das ziemlich volle Restaurant und meldete sich an. "Gabi, schön, dass du da bist. Drei Plätze? Kein Problem. Hier vorne am Fenster." Michelangelo führte die drei zu ihrem Tisch. Sie atmete erleichtert aus und liess sich auf ihren Stuhl fallen.

Sobald sie nach dem ausgiebigen Essen, das von zwei, drei Gläsern Wein begleitet wurde, wieder am Schreibtisch sass, vertippte sie sich bei ihrem Passwort. Zumindest dachte sie das zunächst. Sie legte ihre Finger sorgfältig auf die Tastatur und gab die Buchstaben und Zahlen langsam ein. Drückte auf das Augensymbol, mit dem man das Passwort anzeigen lassen konnte. Sollte passen. Doch wieder wackelte das Anmeldefenster auf ihrem Bildschirm und teilte ihr mit, dass sie nur noch einen Versuch hätte. Was war los? Sie starrte ins Grossraumbüro, beobachtete ihre Nachbarin zur Linken, die gerade privat auf ihrem Handy telefonierte und dabei an ihrer Schuppenflechte am Arm kratzte. Der Platz zu ihrer Rechten war leer - war der Kollege heute überhaupt im Büro? Sie überlegte, setzte sich dann gerade und tippte ihren Code erneut ein, kontrollierte ihn. Wieder falsch. Ihr Gerät sei gesperrt. Der Administrator müsse sich darum kümmern, hiess es.

Der Administrator? Sie zog ihre Stirn in Falten, presste Augen und Mund zusammen. Doch statt Ideen waren da nur schwarze Löcher in ihrem Kopf. Ihre Kollegin links telefonierte immer noch, also stand sie auf und ging zum Flur, von dem links und rechts jede Menge Türen abgingen. Wo arbeitete nochmal ihr Chef? Sie würde einfach jede Tür öffnen. Sie klopfte an der grauen Resopaltüre rechts und horchte. Keine Antwort. Sie drückte die Klinke. Abgeschlossen. Auch links hatte sie keine Erfolg. Zwei Türen weiter platzte sie in eine Sitzung. Mit rotem Kopf entschuldigte sie sich und versuchte es weiter. Am Ende des Flurs angelangt, waren ihre Achseln feucht. Wo wollte sie hin? Sie überlegte angestrengt, doch sie konnte die Gedanken in ihrem Kopf nicht Greifen, sie entglitten ihr wie schlüpfriger Froschlaich. Sie öffnete den obersten Knopf ihrer weissen Bluse, dann zog sie ihre Stöckelschuhe aus. Die hautfarbene Feinstrumpfhose landete neben dem blauen Pumps auf dem Spannteppich im Flur.

Ihr Chef war sich bei der Befragung durch die Polizei am nächsten Tag nicht sicher, ob die blauen Schuhe wirklich Gabi gehörten. Vielleicht hatte sie am Vortag auch schwarze getragen? Bei der Strumpfhose wusste er noch weniger Bescheid. Fest stand, dass seine Mitarbeiterin mitten am Nachmittag das Büro verlassen hatte und bisher nicht wieder aufgetaucht war - ohne Bescheid zu geben! Ihr Handy war offensichtlich ausgeschaltet. Und das, wo sie so einen erfolgreichen Tag gehabt hatten. Er schüttelte den Kopf. Falls sie nicht wieder auftauchen sollte, würde er ihren Anteil an der Provision einstreichen. Ein klarer Fall.

17/06/2024

HASLITEXT GMBH © 2023