Alles wie immer

Eine Rolle Küchenpapier lag neben den geschwärzten Untersetzern auf dem Tisch. Die ehemals weisse Tischdecke wies verschiedenfarbige Flecken und Spritzer auf. Alles wie immer, seufzte Karin in Gedanken, setzte ein Lächeln auf und schüttelte ihren Schwiegereltern die Hand. Sie dachte an die Flasche Sagrotan in ihrem Gepäck und an das Kleiderspray, das sie extra für diese Reise besorgt hatte. Eigentlich war sie sonst nicht besonders empfindlich. Doch um die Weihnachtstage bei ihren Schwiegereltern zu überleben, mussten Vorkehrungen getroffen werden.

Als sie mit Stefan das erste Weihnachtsfest bei seinen Eltern gefeiert hatte, staunte sie noch darüber: offene Toilettentüren (immer!), schmutzige Lavabos, Flecken auf der Tischdecke, die in bunte Alufolie eingepackte Schokolade in einem XXL-Sack in der Mitte des Tisches serviert. Und dann natürlich das Haushaltspapier. Nicht einmal an Weihnachten gab es bei dieser Familie Servietten. Da das Essen einen Fettfilm rund um ihre Oberlippe hinterliess, griff auch Karin schliesslich zur Rolle und riss – das Geräusch erinnerte sie an den Toilettengang – ein Blatt ab.

Essen war für ihre Schwiegermutter das Wichtigste im Leben. Folglich stand sie stets in der Küche. Da auch hier die Tür immer offen war, durchzog der Geruch nach Frittierfett und gedünsteten Zwiebeln das ganze Haus. Sogar ihr Festtagskleid, das schwarze mit den Perlen am Décolleté, das sie im Schrank aufbewahrte, roch wie eine Dönerbude. Karin war es unangenehm, wenn sie Stefans Bruder besuchten oder seine Schulfreunde trafen.

Doch dieses Jahr würde alles anders werden. Sie hatte vorgesorgt. Hatte nicht nur Desinfektionsmittel und Spray mitgenommen, sondern auch mehrere Packungen Servietten und eine hübsche Schüssel für die Weihnachtsschokolade im Gepäck. Die Schüssel war für Maria, ihre Schwiegermutter. Sie würde sich gut auf dem Esstisch oder auf der Anrichte machen. Und die Servietten würde sie vor dem Essen wie nebenbei auf dem Tisch deponieren. Es würde ein schöner Abend werden.

So war es dann auch. Bis zu dem Moment, als Maria die Schüssel auspackte. "Zu was ist die gut?", fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Sie drehte die Schüssel um, betrachtete das dünne Mahagoniholz von allen Seiten und setzte sie schliesslich auf ihren Kopf. "Ein Helm?", frage sie kichernd und schüttelte sich. Zu spät. Die Schüssel glitt von Marias Kopf, rutschte über ihren Rücken und landete auf dem Plattenboden. Es klang, als würde jemand eine besonders harte Nuss knacken. Karin schloss die Augen. Sie wusste auch so, dass die Schüssel zerbrochen war. Nicht so schlimm, sie hatte Maria offenbar nicht gefallen. Die Weihnachtsschokolade wurde anschliessend wie immer mitsamt Verpackung auf den Tisch gestellt. Karin liess die Schultern hängen.

Drei Servietten blieben unberührt, nur eine lag benutzt in einem Teller. Ihre eigene. Der Rest der Familie hatte die silbernen Servietten mit den rotnasigen Rentieren links liegen gelassen und sich am Küchenkrepp bedient. Karin seufzte, kramte geräuschvoll eine Schokolade aus der Tüte und öffnete das Knisterpapier langsam. Sie schob sich das wie ein Tannenbaum geformte Stück in den Mund. Hohl, dachte sie und ihre Mundwinkel sanken noch ein Stück weiter nach unten. Zudem ähnelte der Geschmack jener Schokolade in den Adventskalendern, die sie als Kind bekommen hatte. Sie strich die lilafarbene Alufolie an der Tischkante glatt bis sie wie ein Edelstein glänzte. Dann leckte sie das Viereck ab und drückte sich die Folie auf die Stirn, wo sie kleben blieb.

Keiner sagte etwas dazu. Stefan sah es wahrscheinlich gar nicht, da er damit beschäftigt war, die Tüte mit der Weihnachtsschokolade zu leeren. "Du hast da was", meinte er, als sie eine Stunde später vom Tisch aufstanden und seinen Eltern gute Nacht wünschten. Er zog die Folie von ihrer Stirn und warf sie zu dem Haufen zerknüllter Alupapiere, die er zu kleinen Kugeln geformt hatte.

Karin sah ihm nicht in die Augen und lächelte auch nicht, als er meinte. "Das war jetzt wieder ein richtig schöner Abend." Beim Hinausgehen streifte ihr Blick die zwei Bruchstücke auf dem Boden, die einmal eine Schüssel gewesen waren. Vielleicht konnte sie sie mitnehmen und zu Hause kleben? Eine solche Schüssel wollte sie schon immer gerne haben. Zum Beispiel für Obst oder Plätzchen. Oder für Servietten. Ja, wieso nicht?

12/12/2022

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