Es fühlt sich an, wie wenn ein Blitz einschlagen würde, der auch die dunkelsten Ecken der Gehirnwindungen beleuchtet. Für einen klitzekleinen Moment hat man das Gefühl, mit dem Universum zu verschmelzen, zu verstehen, wie alles zusammenhängt. Dann ist der Augenblick vorbei, das Licht wieder normal, die Welt wieder in den Fugen.
Lars liebte diese Momente. Wenn im Kopf etwas einrastete, Sinn ergab. Wenn plötzlich alles klar war. Aha-Momente machten ihn glücklich. Schade, dass er nicht öfter welche hatte.
Er liess die Zeitschrift sinken, in der er eben die letzte Zeile eines Artikels gelesen hatte. Nicht gelesen, aufgesaugt hatte er ihn. Und etwas hatte klick gemacht. Er lehnte sich in seinen Bürostuhl zurück.
Für ein paar Stunden, mit etwas Glück bis zum nächsten Tag, würde das Gefühl anhalten; die Welt wäre eine andere; zumindest sein Blick auf sie. Dann würde alles langsam, aber sicher wieder in den Normalbetrieb wechseln. Und irgendwann konnte man sich nur noch vage an den Blitz und das damit verbundene Glück erinnern. So als hätte es den Aha-Moment nicht gegeben.
Man müsste etwas erfinden, um diese Momente festzuhalten und sie jeden Tag in der gleichen Intensität zu erleben. Doch dann wären sie wohl irgendwann nichts besonders mehr, man hätte sich daran gewöhnt. Lars runzelte die Stirn. Es musste also immer wieder ein neuer Aha-Moment her. Vielleicht sollte man daraus ein Geschäft machen? Ein Online-Business? Man gab seine Interessen und Vorlieben ein, nannte drei Dinge, die man an sich selber verbessern möchte und voilà. Ein Programm lieferte Texte, Filme, Musik, die einen in Erstaunen versetzten. Das wäre doch was.
Er nahm sein Handy zur Hand und tippte "Aha-Moment" in die Suchmaschine ein.
Er las auf Wikipedia : "Das Aha-Erlebnis ist ein vom deutschen Psychologen Karl Bühler geprägter Begriff aus der Psychologie, der das schlagartige Erkennen eines gesuchten, jedoch zuvor unbekannten, vermeintlich richtigen Sinnzusammenhanges bezeichnet." Und weiter: "Eine Person, die eine plötzliche Einsicht erlebt, ist von der Richtigkeit der Lösung überzeugt." Andere Sprachen hätten den Begriff übernommen, so spricht man im Englischen von aha effect, im französischen von expérience Aha oder Eurêka.
Vermeintlich richtig? Lars stutzte. Was sollte das denn bedeuten? Er zweifelte keine Sekunde an der Richtigkeit seiner Erkenntnisse. Warum auch? Er hing ja nicht irgendwelchen Verschwörungstheorien an. Oder war spirituell angehaucht. In dem Artikel, den er gerade gelesen hatte, ging es um Beziehungsfragen. Warum wir in einer Partnerschaft oft den gleichen Mustern folgten. Immer wieder einen ähnlichen Typ Mensch attraktiv fanden. Die Beziehung beendeten, wenn es zu anstrengend wurde. Und unser Gegenüber für die Probleme verantwortlich machten. Der Text verbreitete einen Hauch Küchenpyschologie, gab Lars zu. Aber er war absolut einleuchtend. Das war doch die Hauptsache.
Ein Klingeln zerriss die nachmittägliche Stille. Lars schlurfte zur Wohnungstür und musterte das Schwarzweissbild, das einen Bodybuilderkörper zeigte. Der Kopf war nicht zu sehen. Lars hatte eine Vorliebe für grosse Männer. Er beobachtete das Spiel der Muskeln an den Oberarmen und am Rumpf, das trotz körnigem Bild gut zu sehen war. Dann seufzte Lars und wandte sich ab.
Heute war der perfekte Tag für einen Neubeginn. Er würde sein Muster durchbrechen. Die Wohnung würde er mit Post its bekleben, auf die er seine heutige Erkenntnis notieren würde. Sogar in den Kühlschrank würde er einen Zettel als Erinnerung legen. Später, wenn Theo wieder weg war. Er drückte auf den Türöffner und sah, wie die schwarzweisse Gestalt die Haustür aufstiess. Ja, später. Vielleicht.