Beim Meditieren

Renate öffnete ein Auge. Zumindest zur Hälfte. Das Licht drang hell durch die grossen Fenster und zeichnete längliche Streifen auf den hellbraunen Parkettboden. Es war still im Raum, alle schienen versunken in ihre Tätigkeit. Also ihrem Nichtstun, präzisierte Renate in Gedanken. Morgenmeditation stand auf dem Programm. Eine ganze Stunde. Auf einem Stuhl, einem Kissen oder auf dem Boden sitzen und nichts denken.
Renate musterte die Frau, die vor ihr sass. Zumindest ihren Rücken. Ihr Schneidersitz schien locker, nicht so wie bei Renate. Ihre Knöchel, die auf dem Holzboden auflagen, hatten bereits nach wenigen Minuten nach Verhallen des Gonges zu schmerzen begonnen. Nun überlegte sie, ob sie aufstehen durfte, um sich eines der Sitzkissen oder einen Stuhl zu holen. Das hatte der Kursleiter im Vorfeld nicht erwähnt.

Sie rutschte ein wenig herum, hob schliesslich den rechten Fuss an und legte ihn auf das linke Schienbein, so wie man es beim Yoga tat. Der Schmerz, der in ihre rechte Hüfte fuhr, raubte ihr für eine Sekunde den Atem. Dann wimmerte sie mit zusammengepressten Lippen und löste das Bein im Schneckentempo aus seiner Position, versuchte es zu strecken. Schweissperlen traten auf ihre Stirn. Dann spürte sie eine Hand auf der Schulter. Der Kursleiter beugte sich über sie. Er roch nach Mottenkugeln und Rexona for men, wie Renate feststellte. Ihr Sohn benutzte das gleiche Deo, sprühte es reichlich in seine Achselhöhlen und auch auf seine Kleidung, bevor er morgens das Haus verliess.

"Alles okay?" Renate sah stur gerade aus und biss die Zähne zusammen. Am besten nicht bewegen. "Ja, es geht schon." Der Kursleiter ging zurück zu seinem Platz, wo einige Räucherstäbchen qualmten. Den Rest der Meditationsstunde verbrachte Renate damit, ihr Bein langsam zu strecken. Zum Schluss lag sie mit dem Rücken auf dem Boden, die Beine weit von sich gestreckt. Auch als alle anderen aufgestanden waren und sich der Rauch in der Luft bereits verzogen hatte, lag Renate noch wie ein gefällter Baum auf dem Parkettboden des Meditationsraums. Stille war eingekehrt. Eine andere Stille als vorher, wie Renate feststellte. Sie schloss die Augen. Endlich Ruhe.

"Renate, kommst du? Wir haben nun Gesprächskreis." Aus weiter Ferne hörte Renate die Stimme des Kursleiters und hatte bald darauf seinen Rexona-Geruch in der Nase. Er hockte neben ihr auf dem Boden. Renate hob den Kopf, stützte sich auf die Ellbogen und stöhnte beim Versuch, das rechte Bein heranzuziehen. "Du scheinst ein wenig verkrampft". Sie spürte den Kursleiter plötzlich hinter ihrem Rücken, er massierte ihr die Schultern und den Hals. Abrupt setzte sich Renate auf, zwang sich auf die Knie und in den Stand. Ihr war schwindelig. Sie konzentrierte sich auf einen Punkt, bis ihr Körper gerade stand. Dann schaute sie den Kursleiter an. "Du hast recht, ich bin verkrampft. Ich glaube, ich bin noch nicht bereit für diesen Kurs."

Der Kursleiter verzog das Gesicht. "Die Einstellung ist mit das Wichtigste. Du musst dich darauf einlassen." Renate lachte gekünstelt auf. "Ja, genau. Daran scheitert es bei mir." Sie machte langsam und humpelnd einige Schritte in Richtung ihrer Tasche, die verlassen auf einem Stuhl unterhalb der Fenster lag. "Das Kursgeld kann ich dir leider nicht zurückerstatten." Der Kursleiter hatte die Arme verschränkt.
Renate blieb auf ihrem schleppenden Weg Richtung Türe kurz stehen. "Das macht nichts. Das zahlt eh mein Arbeitgeber."
"Eine Kursbescheinigung kann ich dir auch nicht ausstellen", rief ihr der Kursleiter noch hinterher.
Kein Problem, dachte Renate, ich gehe nun eh erst mal zum Arzt. Sie drückte auf den Knopf für den Lift und war froh, ihr Auto ganz nah am Eingang des Seminarhotels geparkt zu haben. Meditieren konnte sie dann im Wartebereich des Notfalls. Falls sie Lust dazu hatte.

14/10/2024

HASLITEXT GMBH © 2023