Beinahe wäre Karin umgedreht. Sie zögerte kurz, dann stellte sie sich an das Ende der Schlange, die bis hinaus auf die Strasse reichte. Montagabend war nicht der ideale Zeitpunkt, um die Poststelle aufzusuchen. Doch leider musste das Paket heute noch aufgegeben werden. Sonst käme es zu spät an.
Karin blickte auf ihr Handy. 17.46 Uhr. In 14 Minuten würde die Post schliessen. Hoffentlich war nicht der Mann mit dem Schnauzbart am Schalter, der jeweils pünktlich die Lichter löschte und die verdatterten Kunden vor die Tür setzte. Sie hoffte, dass Marina arbeitete; sie hatte kein Problem damit, ein paar Minuten länger zu bleiben.
Sie trat von einem Fuss auf den anderen und musterte die Menschen, die vor ihr in der Schlange standen. Täuschte sie sich, oder war die Person, die nun gerade ins Innere des Gebäudes nachrückte, ihr Ex-Schwager? Karin schob ihre Sonnenbrille in die Haare und beobachtete den Eingang. Sie hatte Manuel schon länger nicht mehr gesehen, zuletzt wohl auf einem der Familienfest, die sie gegen Ende ihrer Ehe nur noch widerwillig besucht hatte. Er war der Bruder ihres ehemaligen Mannes, genauer gesagt, Halbbruder, so ganz hatte sie die Familiensituation nie durchschaut. Es wurde nicht gern darüber gesprochen, auch ihr damaliger Mann beantworte ihre Fragen nur halbherzig.
Egal. Karin zog ein Paket Kaugummis aus ihrer Tasche, nahm eines der Dragees heraus und genoss den Geschmack nach Kirschen, der sich beim Kauen in ihrer Mundhöhle ausbreitete. Ein erneuter Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie nur noch acht Minuten hatte. Plötzlich ging ein Ruck durch die Schlange und Karin trat durch die Tür ins Gebäude, wo es merklich kühler war. Noch fünf Meter bis zum Schalter.
Tatsächlich stand ihr Ex-Schwager wenige Schritte vor ihr. Sie erkannte ihn, ohne hinzusehen. Er telefonierte und fuchtelte dabei hektisch mit den Armen. Dann drehte er sich um und blickte Karin an, deren Mund sich mit Kaugummispeichel füllte. Seine Augen verengten sich, er nickte knapp und führte sein Telefonat weiter. Karin schluckte und fröstelte. Warum hatte sie nur ihre Strickjacke im Büro vergessen? Die Abende waren nun schon empfindlich kühl.
Sie beobachtete, wie Manual bald darauf an den Schalter trat, mit der Frau - nicht Marina, wie Karin feststellte - sprach, seine Kreditkarte zückte und bezahlte. Mit einem Couvert in der Hand trat er vom Schalter zurück und hastete an der Schlange entlang Richtung Ausgang. Er blickte Karin nicht an, sondern kramte angelegentlich in seiner Jackentasche.
"Hallo Manuel, wie geht es dir?" Manuel blieb erschrocken stehen, suchte die Person zur Stimme und zog die Brauen unter seine Ponyfransen, die wohl jugendlich wirken sollten. Dann sprach er mit der blonden Frau, die hinter Karin in der Schlange stand. Karin drehte sich kurz nach ihr um. Sie kam ihr nicht bekannt vor. Manuel schien es eilig zu haben. Er sagte ein paar Worte und verschwand dann durch die Tür.
18.05 Uhr. Die Frau am Schalter war wohl keine Bürokratin. Nur noch eine Person stand vor Karin. Sie schob ihren Kaugummi, der längst nur noch nach altem Radiergummi schmeckte, in den Backen hin und her. Dann war endlich die Reihe an ihr. Sie stellte ihr Paket auf den Tresen und kramte in ihrer Tasche nach ihrem Geldbeutel. Verdammt! Er lag bei der Strickjacke im Büro, wo sie beides nach dem Mittagessen im schattigen Park deponiert hatte. Was nun? Ihr Mund wurde trocken, dann drehte sie sich zu den Menschen hinter ihr um und frage: "Kann mir vielleicht jemand Geld leihen? Ich habe mein Portemonnaie vergessen." Rote Flecken bildeten sich auf ihren Wangen, die Hände fühlten sich feucht an.
Die blonde Frau runzelte die Stirn, liess ein schmatzendes Geräusch ertönen und drehte den Kopf zur Seite. Zwei Männer weiter hinten sahen Karin voller Abscheu an. Eine ältere Dame rief ungeduldig: "Wird das noch was?" Karin fühlte Schweiss unter ihren Achseln. Sie drehte sich hektisch zur Postbeamtin um und fragte mit hoher Stimme: "Können Sie eine Ausnahme machen? Das Paket muss dringend weg. Ich komme gleich morgen früh vorbei und bezahle!"
Ein Kopfschütteln später stand Karin auf der Strasse, ihr Paket unter dem Arm. Sie fühlte sich erschöpft und zittrig. 18.12 Uhr zeigte ihre Armbanduhr. Der kleine Laden an der Ecke ihrer Wohnung hatte zwar noch geöffnet, doch ohne Portemonnaie würde sie nichts zum Abendessen kaufen können. Sie setzte sich auf die Bank bei der Bushaltestelle und zog das Paketband ab, das die Kartonschachtel zusammenhielt. Dann nahm sie die übergrosse Tobleronepackung heraus, riss sie an einer Ecke auf und biss in die harte, eckige Schokolade, die sie eigentlich nicht mochte, da die Nougatstücke immer zwischen ihren Zähnen klebten.
Es war eh eine blödsinnige Idee gewesen, ihrem Ex-Mann etwas zum Geburtstag zu schenken. Nostalgie! Karin schüttelte den Kopf. 18 Jahre lang hatte sie penibel die Schokoladenvorräte zu Hause aufgefüllt, sonst wurde er rasch ungemütlich. Nun war endgültig Schluss damit. Sie war die angebissene Toblerone zurück in die Schachtel und stopfte alles in den nächsten Mülleimer. Dann ging sie nach Hause und freute sich darauf, sich die Zähne putzen.