Die Wolken türmen sich zu Hochhäusern, fliessen auseinander, stapeln sich erneut. Eine Aussicht wie aus einem der Flugzeuge, die manchmal weit oben am Himmel temporär Linien ziehen. Nic legt den Kopf in den Nacken und blickt über sich. Wolken, Nebel, hier und da milchige Stellen. Heute soll es immer wieder regnen, hat der Meteodienst gemeldet. Im Tal würde er es sich zu Hause gemütlich machen. Hier oben geht das nicht. Die Arbeit ruft.
Er ist mit der Sonne um fünf Uhr aufgestanden und hat sich wie immer zuerst um die Tiere gekümmert. Das Melken mochte er zuerst nicht, mittlerweile geht es ihm rasch von der Hand. Er kümmert sich am liebsten um die Verarbeitung der Milch. Er liebt das schmatzende Geräusch, wenn er die frische Milch in den grossen Kessel zu jener vom Abend davor giesst. Dann wird geheizt, gemessen, gerührt, gewartet. Ob sein Käse der beste ist? Manche sagen es, vor allem seine Freundin, die ihn manchmal an den Wochenenden besucht. Meist nimmt sie das Auto, um hinauf zur Alphütte auf über 2000 Meter zu gelangen. Sie wandert nicht gerne. Früh aufstehen ist auch nicht ihr Ding. Sie hilft ihm dann, den Käse zu pflegen, zumindest eine Weile. Den Rest der Zeit braut sie Kaffee, kocht das frische Gemüse aus ihrem Rucksack und sammelt Kräuter in der Umgebung, meistens oben am Grat, wo die Aussicht ins Nachbartal herrlich ist und die Kühe nicht weiden, denn diesen geht sie lieber aus dem Weg.
Nic mag es, wenn Sarah ihn besucht. Nicht, weil sie ihm eine Hilfe wäre. Nein, Sarah bedeutet für ihn Abwechslung und die Möglichkeit, mit jemandem zu reden. Wanderer verirren sich nur selten zu ihm, zu abgelegen ist die Alp, kein bekannter Gipfel ist in der Nähe. Manchmal schaut der Geisshirt vom hinteren Boden bei ihm vorbei. Doch auch er hat kaum Zeit zum Plaudern. Er muss rasch wieder weiter, immer auf der Suche nach ausgebüxten Ziegen oder mit der Pflege einer Patientin beschäftigt. Die Milch bringt er ins Tal, das Käsen vor Ort lohnt sich nicht mehr, die Menge ist zu klein.
Jedes Jahr Ende August, wenn sich der Sommer verabschiedet und das Futter spärlicher wird, verabschiedet sich das Vieh Richtung Tal und auch Nic macht sich bereit, die Alphütte zu säubern und die Käselaibe ein letztes Mal zu pflegen, bevor sie in andere Hände übergehen. Nach den Monaten in der Höhe freut er sich auf die gemeinsame Wohnung, das Ausschlafen, eine Dusche und guten Internetempfang. Auch auf Sarah freut er sich; darauf, neben ihr im Bett zu liegen, auf den Duft ihrer frisch gewaschenen Haare, ihre Lebenslust. Sie lässt ihm seinen "Alp-Spleen", wie sie seine sommerliche Abwesenheit nennt, kennt es kaum anders. So lange er immer wieder zurück ins Tal käme, sei alles gut, sagt sie jeweils lachend.
Im Winter arbeitet er in der Holzbaufirma seines Schwagers. Um Geld zu verdienen. Er mag den Duft von frisch gesägtem Holz, die Werkstatt mit ihren hohen Toren. Doch er empfindet abends nicht die gleiche Befriedigung wie nach einem langen Tag auf der Alp. Obwohl er körperlich erschöpft ist, kann er oft lange nicht einschlafen.
Spätestens im Frühling wird das Kribbeln in seinem Bauch zu einem Feuer, das munter flackert. Er zählt die Tage, schaut dem Schnee beim Schmelzen zu und geht im Kopf die Namen der Kühe durch, die ihn in wenigen Wochen hinauf begleiten werden. Sarah lacht über ihn und seine Vorfreude, so als wäre Älpler ein Hobby und kein richtiger Beruf. Er hat ihr noch nichts von seinen Plänen erzählt, die Hütte zu kaufen, die jeweils im Sommer sein Refugium ist. Die Erbengemeinschaft, der das Gebäude gehört, hat ihn angefragt, ob er Interesse habe. Und ob er das hat. Er kann sich nichts Schöneres vorstellen. So könnte er die Alpsaison beliebig nach vorne und hinten verlängern, den Wohn- und Kochbereich ausbauen, eine Freiluftdusche installieren und vielleicht sogar ganz hinauf ziehen in das Adlerhorst über den Wolken. Zumindest eine Weile. Er könnte dem ersten Schnee beim Fallen zusehen. Und er hätte genügend Zeit, die Wolkenschlösser zu beobachten.
Was mit ihm und Sarah geschehen würde? Er weiss es nicht. Für sie wäre ein Alpleben keine Option. Für ihn scheint es im Moment die einzige.