Digital detox

Der Worst Case ist eingetreten: Meine Simkarte hat sich verabschiedet. Ich gebe zu, es hat sich abgezeichnet, zuletzt musste ich die Karte regelmässig entnehmen und das Telefon neu starten, damit es wieder funktionierte. Doch ich hatte im Stillen gehofft, dass sich das Problem durch Ignorieren lösen lassen würde. So wie ich es beim Autofahren mache, wenn ich komische Geräusche höre; ich stelle einfach die Musik lauter. Es nützt, zumindest im Moment.

Und nun sitze ich im Zug und habe vier Stunden Fahrt vor mir, hin und zurück zusammengerechnet. Arbeiten wollte ich, mein Laptop läuft. Doch ohne Internet geht nichts. Ich klappe ihn zu und fange an zu schwitzen. Nun bin ich nicht erreichbar und kann niemanden anrufen. Kann die Adresse nicht nochmals auf der Karte überprüfen, die ich am Zielort aufsuchen will. Ich könnte einen der anderen Fahrgäste bitten, die Adresse für mich zu überprüfen. Ich sehe mich um. Handys gäbe es im Umkreis von wenigen Metern genug. Die meisten Fahrgäste sehen wie Touristen aus, die kommen nicht in Frage. Der Mann gegenüber hat die Augen geschlossen und hört Musik. Die Frau rechts von mir lächelt in ihr Display. Nein, ich brauche keine Hilfe.

Trotzig starre ich aus dem Fenster. Nun mache ich das, was immer wieder in Lifestylemagazinen empfohlen wird: digital detox. Einfach mal offline sein. Ich schaue wieder auf mein Handy. Selbst die Uhr geht nicht mehr. Wenigstens kann ich mein Zugticket noch zeigen, und ja, Musikhören geht auch noch. Die habe ich auf dem Gerät gespeichert. Ganz so wie früher.

Nein, eine eSim habe ich natürlich nicht, mein Gerät könnte das gar nicht, viel zu altes Modell. Die Zeit zieht sich in die Länge, auch der Zug scheint langsamer zu fahren. Eine Durchsage klärt auf: «Unser Zug verkehrt aktuell mit einer Verspätung von fünf Minuten. Grund dafür sind Personen in Gleisnähe.» Personen in Gleisnähe? Was soll das denn bedeuten? Verirrte Wanderer? Oder potentielle Personenunfälle? Eine Verspätung kann ich ganz und gar nicht gebrauchen. Falls ich die Adresse nicht sofort finde, wird es eh schon knapp. Unruhig tippe ich mit den Absätzen meiner Stiefel auf der Stelle, während der Zug immer langsamer wird. Irgendwann bleibt er ganz stehen. Ich schaue mich um. Nichts als grüne Wiesen, Kühe und ein paar Bauernhäuser. Die anderen Fahrgäste schauen weiterhin auf ihre Geräte oder hören Musik, niemand scheint beunruhigt.

Wenn ich den Termin nicht schaffe, muss ich unbedingt Bescheid geben. Ich schwitze stärker, reibe mir die feuchten Handflächen an meiner Cordhose ab, warte auf eine Durchsage, die nicht kommt. Ein Schaffner eilt vorbei, ich muss an mich halten, um ihm nicht hinterherzurennen. Nach einer gefühlten Ewigkeit setzt sich der Zug langsam ruckelnd in Bewegung. Bald darauf teilt der Schaffner via Durchsage mit, dass die Personen das Gleis verlassen hätten und der Zug eine Verspätung von 18 Minuten hätte. 18 Minuten? Ich werde definitiv zu spät kommen! Ich klopfe dem Mann gegenüber, der immer noch mit geschlossenen Augen und zurückgelehntem Kopf dasitzt auf die Oberschenkel. Er nimmt die Kopfhörer ab und schaut mich mit gerunzelter Stirn an. Ich schildere ihm meine Situation. Er sieht mich von oben bis unten an, steht auf und nimmt seinen Rucksack. «Tut mir leid, ich muss hier raus.» Er dreht sich um und geht zum anderen Ende des Waggons, obwohl die zweite Tür nur wenige Meter entfernt ist. Dann eben die Asiaten. Ich spreche sie auf Englisch an, doch sie tun so, als würden sie mich nicht verstehen, geben schnatternde Laute von sich und schütteln den Kopf. Plötzlich ist meine Tasche weg. Ich suche den Sitz ab, schaue darunter, in die Gepäckablage, kontrolliere die Sitze daneben. «Wer hat meine Tasche gestohlen?», schreie ich und fuchtle mit den Händen. Niemand beachtet mich. Mein Schreien wird zu einem Kreischen.

Mein T-Shirt ist an der Brust feucht, als ich aus dem Schlaf schrecke. Habe ich geschrien? Ich sehe mich um, die Dämmerung sickert bereits durch den Vorhang. Dann greife ich nach meinem Handy, das stets neben meinem Bett auf dem Boden liegt. 4.55 Uhr. Die Uhr funktioniert. Der Rest auch. «Neue Simkarte besorgen» texte ich per SMS an mich selber. Dann aktiviere ich den Flugmodus und lege das Gerät zurück auf den Boden. Ich schliesse die Augen und warte auf den Schlaf. Mein Wecker klingelt erst in eineinhalb Stunden. Was würde ich ohne mein Handy machen? Will ich gar nicht wissen. Ich gähne und drehe mich auf die Seite.

10/06/2024

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