Herzklopfen

An das erste Mal erinnert er sich noch genau: Er lag im Bett, auf dem Rücken. Er dachte: So, nun sterbe ich. Das wars. Da war diese unbeschreibliche Angst, die ihn wie eine eiserne Faust umklammerte und immer fester zudrückte. Sein Herz zu zerquetschen drohte. Die Sekunden verrannen, dann war es vorbei. So als wäre nichts gewesen.

Erst dachte Emil, dass er es sich eingebildet hätte. Dass sein Herz nicht wie verrückt bis in seinen Hals geklopft hätte und sein Blutdruck gefühlt ins Unermessliche gestiegen sei. Doch nach dem Erlebnis im Bett passierte es wenige Tage später wieder. Er stand am Bahnsteig, wartete auf die S-Bahn, die ihn nach Hause bringen würde. Sein Herz stolperte, galoppierte, raste. Zehn, vielleicht fünfzehn Sekunden lang. Dann kehrte Stille ein. Emil war erstarrt. Er hatte nach einem Sitzplatz Ausschau gehalten, war aber unfähig gewesen, sich zu bewegen. Todesangst.

45 war er jetzt. Sein Vater hatte nur wenige Jahre älter seinen ersten Herzinfarkt erlitten. Am zweiten war er dann gestorben. Mit Mitte 50. Herzkrankheiten lägen in der Familie, hatte ihm seine Mutter schon als Kind erklärt. Auch ihre Mutter, seine Oma, war früh gestorben. An gebrochenem Herzen, wie seine Mutter stets sagte. Was das bedeutete, verstand Emil als Kind nicht. Auch heute lagen die Gründe für den Tod seiner Oma im Dunkeln. Er erinnerte sich nur verschwommen an sie. Auch die Erinnerung an seinen Vater verblasste von Jahr zu Jahr. Bedauerlich, wie Emil fand. Doch so war das Leben.

Die Herzaussetzer, wie er sie für sich nannte, passierten anschliessend fast täglich. Ein Engegefühl in der Brust, das stolpernde, rasende Pumpen seines am härtesten arbeitenden Muskels. Zugegeben, Emil war nicht besonders sportlich. Er ging viel zu Fuss. Ansonsten mochte er sein Sofa. Sein Bett. Seinen Sessel am Fenster. Er wusste, dass er sich mehr bewegen, gesünder essen sollte. Das hatte ihm die nette Ärztin bereits nach dem ersten EKG gesagt. Der Herzspezialist, den er bald darauf aufgesucht hatte, ebenso. Schlimm seien seine Herzstolperer nicht. Aber man sollte sie im Auge behalten.

Emil steht vor dem Fenster und betrachtet sein Profil in der spiegelnden Scheibe. Er seufzt. Dann nimmt er sich vor, weniger Alkohol zu trinken, am besten ganz darauf zu verzichten. Wobei, in der Adventszeit ist das nicht realistisch. Auf Süsses verzichten auch nicht. Mehr Bewegung. Das würde drin liegen. Er blickt aus dem Fenster. Es regnet in Strömen, Bäche rinnen entlang der Gehsteige und verschwinden in den durstigen Gullys. Emil nimmt sich eine Autozeitschrift und setzt sich aufs Sofa.

Mit der Zeit gewöhnt er sich an das Flimmern seines Herzen. Angst machen ihm die Stolperer immer noch. Doch sie gehen vorbei und Emil vergisst seine guten Vorsätze. Die Arztbesuche werden seltener, die Spaziergänge auch. Die Nadel der Personenwaage, die er von seiner Mutter geerbt hat, zeigt zunehmend nach rechts. Als Emil seinen 55. Geburtstag feiert, denkt er, dass er nun älter ist, als es sein Vater jemals war. Seltsam. Aber auch erleichternd.

Seinen letzten Herzschlag verpasst Emil. Er liegt im Bett und schläft. Ohne Erwachen. Von draussen funkelt die Weihnachtsbeleuchtung seines Nachbarns ins Zimmer. Sie brennt die ganze Nacht, raubte Emil den Schlaf. Violette Lichtblitze tanzen über Emils wachsartiges Gesicht. In Verbindung mit dem Blaulicht des Ambulanzfahrzeugs erinnern sie an das zuckende Licht in einer Diskothek. Herzstillstand wird der Arzt auf seinem Totenschein notieren. Traurig, so kurz vor Weihnachten, denkt er flüchtig, bevor er den Schein kopiert und zu seinen Akten legt. Doch im Dezember ist das normal. Jetzt ist Hochsaison fürs Sterben, das weiss er. Trotz Weihnachten. Oder gerade deshalb.

11/12/2023

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