KI - ein Kinderspiel?

Tim kannte sich aus - er hatte über 300 Apps auf seinem Handy installiert, war im Informatikunterricht der Klassenbeste und verbrachte fast seine komplette Freizeit im Internet. Sogar das Darknet hatte er schon besucht, fand es dann aber ein bisschen langweilig. Er wollte schliesslich keine illegale Handfeuerwaffe kaufen und wohnte auch nicht in China.

Als er das erste Mal von KI - künstliche Intelligenz - hörte, war er Feuer und Flamme. Ein Programm, das, einmal gefüttert, die kognitiven Fähigkeiten des Menschen imitierte und selbständig arbeitete. Wahnsinn! Das war das Ende seiner Angstzustände, die ihn regelmässig heimsuchten, wenn er in Deutsch oder Biologie eine Arbeit schreiben musste.

Tim ging sogleich im Web auf die Suche nach geeigneten Programmen, führte Testläufe durch und war höchst zufrieden: keine Frage, das wäre die Zukunft. KI verstand es, richtig gute Texte über ein Thema seiner Wahl zu verfassen. Er freute sich auf die nächste Doppellektion Deutsch.

Sein Lehrer, Herr Zwahlen, liess ihn nicht lange warten. Eine Buchrezension sollte Tims Klasse schreiben. Das Buch war frei wählbar. Länge mindestens zwei A4-Seiten. Die Aufgabe: Beschreibe die Protagonisten. Was macht sie unverwechselbar? Warum handeln sie so und nicht anders?

Tim grinste breit, als er vor dem Computer sass. Er hatte ein Buch gewählt, über das im Internet eine Menge zu finden war. Willhelm Tell von Friedrich Schiller. Die Erzählung über den Schweizer Nationalhelden. Das wäre ein würdiger Beginn seiner Karriere als KI-Ghostwriter.

Den Titel formulierte er selber, was ihm aber nicht weiter schlimm erschien. Der Text konnte sich sehen lassen, fand Tim - obwohl er den deutschen Buchklassiker nie gelesen hatte. Aber das war für ihn Nebensache. Er achtet auf die richtige Formatierung (Zeilenabstand 1,5, Schriftgrösse 12) und gab seine Arbeit zwei Tage vor dem Termin ab. Herr Zwahlen würde sich wundern.

Das tat er auch. Aber nur kurz. Dann bat er Tim und einen Mitschüler nach dem Unterricht zu sich. Statt ihre Arbeiten als ungenügend zu bewerten, würde er ihnen eine zweite Chance geben, stellte er klar. Sie sollten bis nächste Woche über ein anderes Buch und ohne fremde Hilfe schreiben. Sein Tipp wäre: Kein Klassiker. Da bestünde Gefahr, dass eine andere Person ebenfalls über dieses Werk schriebe. Oder schreiben liesse.

27/02/2023

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