Kurt liess die Arme kreisen. Erst den einen, dann den anderen. Langsam, schnell, dann wieder langsam. Seine Fingerspitzen in den dicken Handschuhen blieben taub. Er zog die Schultern hoch und neigte den Kopf nach vorne, um seine kalten Lippen in der zugezogenen Kapuze vor dem Wind zu schützen. Die Schneeflocken fielen nun fast waagrecht, der Wind pfiff und sauste wie ein wild gewordenes Tier und drang durch die Nähte seiner Daunenjacke.
Hätte ich doch die dickere Jacke genommen. Oder die wärmere Mütze. Am besten wäre ich gar nicht hier, sondern zu Hause, vor dem Kamin, in dem ein lustiges Feuer prasseln würde. Eine Tasse dampfenden Tee in der Hand. Eine Packung meiner Lieblingskekse. Kurt stellte sich vor, wie sich die Nougatfüllung in seinem Mund ausbreitete. Ein Ruf holte ihn unvermittelt zurück. Zurück auf den windumtosten Pass auf über 3000 Meter. "Kurt, du kannst losfahren!"
Er blickte sich um, sah Renate, die gerade den Brustgurt ihres Rucksacks schloss. Das Klacken der Schnalle verlor sich im Wind. Ebenso das Einrasten ihrer Skischuhe in der Bindung. Kurt blickte nach unten. Auf die Skier an seinen Füssen. Er bewegte die Beine. Die Skischuhe waren bereits auf Abfahrt umgestellt. Wann hatte er das gemacht? Seine Gedanken schienen ebenso eingefroren zu sein wie seine Finger. Er umklammerte seine Skistöcke fester, dann stiess er sich langsam ab. Nur mit Mühe erahnte er durch seine Skibrille eine Spur vor sich im Schnee zwischen wirbelnden Flocken. Sie verschwand im weissen Nichts. Er rutschte durch den Neuschnee hinterher, schob ihn zur Seite. Blieb stehen, schaute, fuhr weiter. Nur raus aus dem garstigen Wind.
Doch dann: keine Spur mehr. Nur noch festgedrückter Schnee. Kurt fiel es zunächst nicht weiter auf. Doch als der Hang immer steiler wurde, blieb er stehen. Sah sich um. "Luise", fing er an zu rufen. Zunächst leise, dann immer lauter. Er horchte angestrengt ins Schneetreiben. Musterte die Felsen, die er in rund zehn Metern Entfernung ausmachen konnte. Alles schwarzweiss. Keine Luise.
Mit einem Mal wurde ihm heiss. Die Ahnung rollte wie ein Tsunami heran und wurde zum erkenntnisspuckenden Vulkan. Die oberste Schneeschicht war weg. Luise auch. Er drehte sich um, sah Renate und Manfred weiter oben auf einem Absatz stehen. "Kurt, hast du die Lawine beobachtet? Komm rasch herauf!".
Die folgenden Stunden erschienen ihm im Nachhinein wie ein Traum. Wie sie sich unterhalb des Anrisses im steilen Hang sicherten und auf die Rettung warteten. Wie sie, die drei erfahrenen Tourengänger, allesamt bewegungsunfähig waren. Wie sie immer wieder versuchten, Luise am Telefon zu erreichen. Wie schliesslich die beiden orangefarbenen Bergretter vor ihnen standen und sie, am Seil gesichert, zurück zum Pass führten. Wie sie durch den stockdicken Nebel im Stemmbogen den Gletscher hinab fuhren und irgendwann das Grau hinter sich liessen. Wie der Helikopter sie einsammelte und ablud. Wie sie in den Zug nach Hause stiegen.
Die Nougatkekse schmecken Kurt seit diesem Tag nicht mehr. Er muss immer an Luise denken, wenn er sie im Schrank sieht. An ihre Fröhlichkeit. Selbst im grössten Sturm hatte sie ihr Lachen nicht verloren. Nun war es eingefroren. Für immer. Nach zweistündiger Suche hatte man sie gefunden. Zwanzig Personen hatten den riesigen Lawinenkegel unterhalb des Steilhangs abgesucht. Luise war erstickt. Ihr Mund war mit Schnee gefüllt. Vielleicht hatte sie noch gerufen, bevor sie ins Trommelfeuer des herabsausenden Schnees geraten war? Bevor sie vom Licht in die Dunkelheit geschleudert worden war. Vielleicht hatte sie aber auch gelächelt. Er hoffte es.