Lydia starrte ins Dunkel. Ihre Augen brannten, ihre Glieder schienen Tonnen zu wiegen. Sie befühlte mit den Fingerspitzen den Baumwollstoff, auf dem sie lag. Dann schnupperte sie an ihrer Bettdecke, zog sie hoch bis unter ihre Nasenspitze. Lass los, befahl sie sich immer wieder. Ihr Mantra. Nacht für Nacht.
Ihre Psychologin hatte ihr zu autogenem Training geraten. Es brauche ein wenig Übung, doch irgendwann würde es Lydia entspannen. Ganz bestimmt. Anfangs hatte sie es wirklich versucht. Irgendetwas musste doch gegen ihre Schlaflosigkeit helfen. Sie hatte inzwischen das ganze Programm probiert: Hopfen- und Baldrian, in Tee- und Tablettenform. Feste Zu-Bett-Geh- und Aufwachzeiten. Kein Fernsehen oder Handy vor dem Einschlafen. Massagen. Bäder. Keine Nachmittagsschläfchen, damit sie abends richtig müde wäre. Kein Alkohol. Und eben: Die Gedanken ziehen lassen, die Muskeln entspannen.
Die Minuten verrannen. Lydia widerstand dem Impuls, erneut auf die Beleuchtungstaste des Weckers zu drücken. Das würde sie nur zusätzlich stressen, hatte ihre Psychologin behauptet. Was wusste die schon? Lag Frau Minger-Meier etwa jede Nacht wach so wie sie selbst? Lydia ballte die Fäuste. Zum Teufel mit der Entspannung! Sie schlug die Bettdecke zurück und knipste das Licht auf dem Nachttisch an.
Froh darüber, alleine zu wohnen, schnappte sich Lydia ihren Morgenmantel. Dabei fiel ihr Blick auf ihre Joggingsachen, die frisch gewaschen auf dem Stuhl lagen. Sie hatte sie gestern Abend nicht mehr verräumt, wohl in dem Glauben, sie bald wieder zu brauchen. Lydia schaute auf ihren Wecker. 2:15 Uhr. Warum nicht? Sie zog sich um, suchte nach Handschuhen und einer dünnen Mütze gegen die nächtliche Kälte und schlüpfte in ihre bequemen Joggingschuhe. Neue wären nicht schlecht, dachte sie noch und schloss ihre Wohnungstüre ab. Als sie die Haustüre aufzog, zuckte sie zurück. Es war dunkel, so richtig. Seit die Gemeinde wegen der Energiekrise Strom sparte, waren die Strassen nach Mitternacht nicht mehr beleuchtet. Mist. Sollte sie nochmals hoch in ihre Wohnung und nach einer Taschenlampe suchen? Ach was, es würde auch so gehen. Wenn sie Glück hätte, würde der Mond scheinen.
Weder der Mond, noch die Sterne zeigten sich. Ein Nebelschleier lag über dem Dorf. Während sich Lydias Augen noch an die Dunkelheit gewöhnten, stellte sie fest, dass sie den Waldrand erreicht hatte. Ihre übliche Route. Sie blieb stehen. Ihr Atem bildete Wölkchen, die sie nicht sehen, aber auf ihrer Haut fühlen konnte. Sie blickte nach links, dann nach rechts. Dann bog sie in den Waldweg ein. Sie kannte ihn auswendig. Mindestens drei Mal pro Woche lief sie hier entlang. Erst ging es gerade, dann kam eine Linkskurve, dann die Rampe, der Panorama-Abschnitt mit Grillstelle und schliesslich schlängelte sich der Weg wieder hinab ins Dorf. Sollte kein Problem sein.
Das Ende der Rampe sah sie nicht. Der Nebel umhüllte sie mehr und mehr, je höher sie lief. Ihr Puls wummerte in ihren Ohren, er klang überlaut, wie ein Trommelfeuer. Nur noch wenige Meter und sie würde den Panoramaweg erreichen. Heute zwar wohl ohne Fernblick. Lydia kniff die Augen zusammen, um den weiteren Verlauf des Weges zu erkennen. Sie fühlte sich wie vor einigen Jahren auf der Skipiste, als der Nebel so stark gewesen war, dass selbst die orangen Stecken am Pistenrand nicht mehr zu erkennen gewesen waren. Sie streckte ihre rechte Hand aus und ging Schritt für Schritt voran. Kies knirschte unter ihren Schuhen. Sie schob eine nasse Haarsträhne hinter die Ohren und sah sich erneut um. Watte, nichts als Watte. Ein Wolkenmeer aus Watte. Lydia streckte die Hände weit aus, als wollte sie die Luft umarmen. Dann setzte sie sich auf die feuchten Steine und liess sich zurücksinken, bis ihr Hinterkopf den Boden berührte.
Ein Mann mit Dalmatiner, der jeweils kurz nach Sonnenaufgang seinen Hund ausführte, fand Lydia in Embryostellung auf dem Wanderweg liegen. Er blieb stehen, zögerte, dann legte er der jungen Frau seine Hand auf die Schulter. Diese war kalt. Er zuckte zurück, dann klopfte er seine Windjacke ab, bis er sein Handy gefunden hatte und anfing, es umständlich herauszuziehen. Während er noch überlegte, wie die Notrufnummer schon wieder lautete, hatte sich die Frau vor ihm aufgesetzt und streckte sich wie eine Katze.
"Ist alles in Ordnung mit ihnen?" Der Mann liess das Handy sinken.
"Ja, alles bestens. Ich habe schon lange nicht mehr so gut geschlafen." Lydia stand auf und streckte ihre steifen Glieder. Dann trabte sie die Rampe hinunter, die sie zurück ins Dorf führen würde, das bereits von den ersten Sonnenstrahlen erhellt wurde.
Autogenes Training, pah! Lydia presste die Lippen zusammen. Sie wusste nun, was sie tun würde, wenn sie wieder einmal wach läge. Vielleicht sollte sie nächstes Mal eine Decke mitnehmen. Und sich etwas abseits des Wanderweges hinlegen. Der Mann hatte ziemlich bleich ausgesehen.