Watte im Kopf

Jetzt war es passiert. Sie sass vor dem Bildschirm und betrachtete das Word-Dokument, das - noch namenlos und unberührt - vor ihr lag. Sie konnte nicht beginnen. Ihre Finger schienen ihr nicht zu gehorchen. Sie ruhten vor der Tastatur auf der Schreibtischplatte, wanderten in ihren Schoss, an ihre Stirn, strichen dann über die grauen Plastikknöpfen mit den Buchstaben, ohne sie anzuschlagen. Ein kleiner Plastik-Trommelwirbel. Dann wieder nichts.

Ihr Kopf war leer. Keine Idee. Nichts. Sie öffnete ihre Notizen auf dem Handy, wo sie ihre Einfälle festhielt. "Waschmaschine" stand da. Zudem: "Was machen Fische im Winter?" Iris runzelte die Stirn. Sollte da was bei ihr klingeln? Sie hatte den Kontext vergessen. Oder fand ihn nicht mehr bedeutend. Dann musste eben etwas anderes her.

Sie öffnete ihren Browser und las die neuesten Nachrichten ihrer Tageszeitung. Diese inspirierten sie manchmal. Vor allem die Geschichten in den Rubriken "Panorama" und "Vermischtes". Heute ging es um die steigende Anzahl Hunde, die an Raststätten ausgesetzt wurden. Corona-Köter, dachte Iris und schloss die Seite. Dann blickte sie aus dem Fenster, zur Sommerlinde vor dem Haus, die bald blühen würde. Der Himmel war bewölkt, eine Brise fegte durch die Blätter und bog die Äste sanft. April-Wetter. Iris zog ihre Strickjacke enger um ihre Schultern und gähnte.

Okay, ihr fiel nichts ein. Sie wusste nicht, wie sie die 2000 Zeichen für ihre nächste Kolumne füllen sollte. Abgabetermin war heute Nachmittag, 16 Uhr. Sie blickte auf die Uhr. Es war kurz nach elf. Sollte sie sich in der Redaktion krank melden? Eine Grippe vortäuschen? Nein, sie hatte ihren letzten Beitrag vor zwei Wochen schon mit dem anderen Kolumnisten abgetauscht. Wegen dem Kurztrip nach Barcelona. Doch wenn sie genauer darüber nachdachte, war ihr nichts eingefallen. Sie hatte das Schreiben aufgeschoben, was sonst gar nicht ihre Art war. Die Reise kam ihr als Vorwand gelegen. Sie war ja sonst immer zuverlässig. Der Chefredakteur nannte sie seine Vorzeige-Freie-Mitarbeiterin.

Iris riss ein Häutchen an ihrem rechten Daumennagel ab und beschloss, sich mit etwas Praktischem zu beschäftigen. Dann würden die Ideen schon kommen. Sie kochte sich einen Kaffee, stellte die Waschmaschine an - definitiv kein spannendes Schreibthema, wie sie fand - und verabredete sich telefonisch mit einer Freundin zum Abendessen.

Nach einer aufgewärmten Suppe vom Vortag und ein wenig Brot sass sie um 13.30 Uhr wieder an ihrem Schreibtisch. Noch 2,5 Stunden. Kein Problem für sie als Schreibprofi. Gut, dass die Kolumne "Alltagsgeschichten" hiess. So war nahezu jedes Thema möglich. Sogar über die politische Lage hatte sich Iris schon geäussert, in den fünf Jahren, die sie nun schon alle zwei Wochen für die "Agenda" schrieb. Kein Wunder, dass nun Ebbe im Kopf war - das waren ja mehr als 250 Beiträge, die sie im Lauf der Zeit verfasst hatte. Vielleicht war das ein Zeichen. Sie hatte alles geschrieben. Sollte sie sich nach etwas Neuem umsehen? Doch das Geld konnte sie nach wie vor gut gebrauchen. Ihre Arbeit als Buchhändlerin brachte nicht viel ein; die Wohnung war eigentlich zu gross für sie und ihre zwei Katzen. Doch sie mochte die Stuckdecke und die ruhige Lage. Und geschrieben hatte sie schon immer gern. Sie hätte eine spitze Feder, hatte der Chefredakteur mal zu ihr gesagt. Sie sei erfrischend. Und ja, es machte ihr grossen Spass, die Kolumne zu schreiben.

Das war seit ein paar Wochen anders. Was war passiert? Iris blickte erneut auf das Word-Dokument. Der schwarze Strich blinkte am linken oberen Rand, bereit, ihre Worte aufzunehmen. Sie legte ihre Finger auf die Tastatur. Den linken Zeigefinger auf das F, den rechten auf das J, die Daumen über der Leerschlagtaste. Dann schrieb sie:

"Jetzt ist es passiert. Ich sitze vor dem Bildschirm und betrachtete das Word-Dokument, das - noch namenlos und unberührt - vor mir liegt. Ich kann nicht beginnen..."

24/04/2023

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