Als Kind hatte Samuel im Guinness-Buch der Rekorde über einen Mann gelesen, der fünf Jahre ununterbrochen Schluckauf gehabt haben soll. Fünf Jahre? Das war damals die Hälfte seines Lebens. Er hatte die Stirn gerunzelt und überlegt: Wie hatte der Mann schlafen können? Wie ein Musikinstrument, zum Beispiel Flöte, spielen? Hatte er sonntags in die Kirche gehen können? Tauchen? Ein Buch lesen?
Immer, wenn er selbst Schluckauf hatte, wurde er schnell aktiv, um diesen loszuwerden. Er hatte ein grosses Glas Wasser getrunken, die Luft angehalten oder an einem Stück Würfelzucker gelutscht, wie es ihm seine Grossmutter geraten hatte. Das hatte meist rasch geholfen. Wenn es einmal länger gedauert hatte und der Schluckauf nach rund 15 Sekunden Pause zurückgekommen war, war Samuel fast panisch geworden.
Später kam ihm das lächerlich vor. Die Geschichten in dem bekannten, dicken Rekordebuch, das jedes Jahr mit noch bunteren und abstruseren Bestmarken erschien, waren übertrieben und geschmacklos. Und ob sie stimmten, war sich Samuel auch nicht wirklich sicher.
Es passierte an einem Dienstag. Er hatte nach der Arbeit einen flotten Spaziergang von 30 Minuten absolviert, hatte geduscht, ein Steak gebraten und ein Packung Kartoffelbrei zubereitet. Die Hälfte der 10-Uhr-Nachrichten bekam er, so wie meistens, gar nicht mehr mit, da sein Kopf bereits auf die Lehne des Sofas gerutscht war. Er putzte sich die Zähne und spuckte die Zahnpasta in einem satten Strahl ins Waschbecken. Dann zog sich sein Zwerchfell zusammen. Hicks.
Obwohl es Samuel so kurz vor dem Zubettgehen vermied, zu viel Flüssigkeit zu sich nehmen, füllte er ein Glas Wasser und trank es in langsamen Schlucken. Ein unangenehmes Druckgefühl in seinem Bauch- und Halsraum verriet ihm, dass er den Schluckauf noch nicht losgeworden war. Er entschied sich, die Luft anzuhalten. Nach 45 Sekunden gab er auf. Hicks.
Vielleicht würde Ablenkung helfen. Samuel zog sich aus, legte sich ins Bett und startete auf seinem Handy seinen Lieblingspodcast. In "Verbrechen" ging es um reale Kriminalfälle, die ihm Gänsehaut machten oder ihn zum Schmunzeln brachten. Auf jeden Fall würden sie ihn ablenken. Und wenn der Schluckauf weg wäre, könnte er schlafen, so seine Vermutung.
Als er das letzte Mal auf seine Handyuhr geschaut hatte, war es 2.15 Uhr gewesen. Er lag im Bett, wälzte sich hin und her und gab in regelmässigen Abständen ein Hicks von sich. Sogar einen Kopfstand hatte er gemacht, war dabei aber schmerzhaft an den Schlafzimmerschrank gestossen. Nichts hatte bisher geholfen. 2.34 Uhr.
Samuel musste trotz Schluckauf irgendwann eingeschlafen sein. Als um 6.30 Uhr sein Wecker klingelte und er sich schlaftrunken aufsetzte, hatte er seine nächtliche Pein vergessen. Erst als sich sein Bauch zusammenzog, fiel ihm alles wieder ein. Der Schluckauf! Er war immer noch da!
Er entschied sich, ruhig zu bleiben. Das Problem würde sich von selbst erledigen, ganz bestimmt. Bis Freitagmittag hielt er durch. Dann nahm er - komplett übermüdet und der Verzweiflung nahe - Kontakt mit seinem Hausarzt auf.
Es folgten eine Reihe von Untersuchungen. Samuel suchte Spezialisten auf, nahm Medikamente, liess sich mit Strom behandeln, besuchte sogar auf Anraten eines Arztes die Geisterbahn auf dem Volksfest. Nichts half. Im Schnitt alle 4,1 Sekunden drang das vertraute Druckgefühl vom Bauch hinauf Richtung Kehle und meldete sich mit einem glucksenden Geräusch. Immerhin lernte Samuel trotz Schluckauf einzuschlafen und konnte irgendwann auch das Hicksen unterdrücken. So ging sein Leben weiter, er gewöhnte sich an die Erschütterungen seines Zwerchfells. An manchen Tagen dachte er gar nicht mehr daran.
Bis eines Tages das Telefon klingelte. Ein Mann von der Guinness-Buch-Redaktion war am Apparat und befragte Samuel zu seinem Schluckauf. Wie lange er ihn schon hätte? Ob dies dokumentiert sei? Samuel überlegte, nannte das Datum. Für den Rekord reiche es noch nicht, hörte er. Dieser liege im Moment bei 25 Jahren. Aber er werde sich gerne wieder bei ihm melden, wenn es soweit sei.
Irritiert legte Samuel auf. Ins Guinness-Buch wollte er auf keinen Fall! Woher wussten die überhaupt von ihm? Er hörte die Küchenuhr ticken, Regentropfen trommelten gegen das Fenster. Ansonsten war es still. Samuel horchte in sich hinein. Wartete. Nichts. Kein Zucken, kein Drücken. Er kochte, ass, sah fern und putzte sich die Zähne. Dann lag er im Bett und horchte erneut. Der Schluckauf war weg. Er schloss die Augen und schlief ein.