Rauschbrand

Schwarze Punkte umkreisten die Graufluh. Josef kniff die Augen zusammen, erkannte Flügel, mehr aber nicht. Er drehte sich um, zog den Kopf im Türkreis ein und betrat die Holzhütte, die schon hier gestanden hatte, als sein Grossvater noch jeden Sommer auf der Alp verbrachte. Seine Brille fand er auf dem grob gezimmerten Tisch in der Ecke, beim Hinausgehen nahm er das Fernglas vom Eisennagel neben der Tür.
Geier, eindeutig. Josef stellte das Fernglas scharf und schaute lange. Drei Stück. Schöne Tiere. Sie schienen etwas zu fressen gefunden zu haben. Was sollten sie sonst unterhalb der Fluh wollen? Die majestätischen Vögel zeigten sich selten und dann nur einzeln. Flogen an der Alphütte vorbei und waren, noch bevor Josef die Kamerafunktion seines Handys aktiviert hatte, verschwunden.


Ob er aus Neugierde oder aufgrund einer Vorahnung hinaufgestiegen war, konnte er später nicht mehr sagen. Als er dem felligen Hügel näher kam, war rasch klar: Paula. Sie lag mit geschwollenen Beinen und geblähtem Bauch auf der Seite, die Zunge hing aus ihrem Mund. Noch heute morgen hatte er sie gemolken, wie so oft davor. Sie war eines der ältesten Tiere, ging schon gegen zehn Sommer auf die Alp. Josef blickte in den Himmel. Die Geier hatten sich verzogen.


"Du musst sofort herkommen", sprach er kurz darauf in sein Mobiltelefon, das er in einem kleinen Täschchen an seinem Ledergurt mit sich trug. So war es geschützt, wenn er mit der Mistgabel hantierte, mähte, im Milchkessel rührte oder Weidezaun reparierte. "Paula ist tot." Er schwieg und fügte dann hinzu. "Ich warte bei der Hütte auf dich." Dann legte er auf.


Heute morgen war ihm nichts aufgefallen. War sie anders als sonst gewesen? Josef zermarterte sich noch immer das Gehirn, als er den grünen Range Rover vorfahren sah. Eine massige Gestalt stieg aus, sprach mit ihm und stieg anschliessend hinauf zur Weide unterhalb der Graufluh, wo sich kein Geier mehr zeigte.
Alois wusste Bescheid. "Rauschbrand", sagte er. Man müsse Paula fortschaffen und den Ort, an dem sie gestorben war, grossräumig absperren. Der Erreger sei im Boden und werde beim Fressen aufgenommen. Für die erkrankten Tiere könne man nicht viel tun. Es bleibe zu hoffen, dass Paula ein Einzelfall sei.


Regelmässig wanderte Josefs Blick in den nächsten Tagen hinauf zur Graufluh und zum Himmel. Er hielt Ausschau nach Aasfressern. Die Brille blieb nun immer auf seiner Nase, auch wenn sie beim Heuen und Käsen unpraktisch war. Er sollte noch einige Geier sehen in diesem Sommer, an den er sich später am besten von all seinen Alpsommern erinnerte. Vielleicht auch, weil es sein letzter war. Insgesamt sechs Mal stieg er hinauf und fand verendete Tiere, telefonierte, liess sie abtransportieren und vergrösserte das Weidegebiet, das die übrigen Rinder und Kühe nicht mehr betreten durften. Gegen Ende des Sommers weideten die Kühe rund um die Alphütte, da es Josef nicht verantworten konnte, sie weiter hinauf zu lassen.


Er verbrachte die Abende im Schein der Solarlampe und versuchte mehr über das Bakterium herauszufinden, das unterhalb der Grasnarbe hauste. Für Menschen war es nicht ansteckend. Für Wiederkäuer wie Rinder und Schafe sehr wohl. Auch früher hatte es Fälle gegeben. Man konnte nicht viel machen. Die oberste Erdschicht einer Alpwiese abzutragen war viel zu aufwändig.


Mitte September wanderte Josef mit einer dezimierten Herde hinab ins Tal. Die Tiere waren geschmückt, so wie es der Brauch wollte. Die Damen trugen Tracht, er hatte seinen Hirtenstab dabei. Ein wenig wehmütig nahm er Abschied von den Tieren, mit denen er den Sommer verbracht hatte. Er wusste damals noch nicht, dass es für immer war. Kurz darauf wurde die Abstimmung zum Bau einer alpinen Solaranlage unterhalb der Graufluh knapp angenommen. Nach der Schneeschmelze im Frühsommer rollten die Baumaschinen auf die Alp. Helikopter kreisten über den Weiden und luden Solarpannels ab. Wo früher saftiges Gras wuchs, war bald darauf eine durchgehende schwarzglänzende Fläche. Es sah aus wie ein Mantel, den sich die Graufluh übergeworfen hatte. Josef nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Dann zog er den Kopf ein und trat in die Alphütte und betrachtete den leeren Kupferkessel über der verwaisten Feuerstelle. Nach Geiern musste er nun nicht mehr Ausschau halten. Auch sonst gab es nichts zu tun. Er nahm seine Jacke, schloss die Türe und stieg wieder hinab ins Tal. Seine Brille blieb auf dem Holztisch liegen.

18/09/2023

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