Kontrollverlust

Direkt nach dem Aufwachen wandern Daniels Hände über seinen Brustkorb. Er befühlt seine Rippen, tastet nach seinem Bauch und umfasst dann seine Hüftknochen. Na ja. Die Schicht aus Haut, Gewebe und Fett scheint gegenüber gestern unverändert zu sein. Dabei war er nach der Arbeit insgesamt drei Stunden auf dem Laufband und im Kraftraum. Hatte beim Abendessen auf Kohlenhydrate verzichtet.

Er steht auf und nimmt ein sauberes Hemd vom Bügel, streift es über und schliesst den Knopf seiner Anzughose. Bei der Kleidung macht er keine Kompromisse. Auch an arbeitsfreien Tagen würde man ihn nie in einer Jogginghose antreffen. Ausgeschlossen. Im Fitnessstudio trägt er stets gebügelte Sportklamotten. Disziplin ist das halbe Leben. Das haben ihm seine Eltern schon früh beigebracht. Als Kind fand er das ätzend, heute ist er seinem Vater dankbar, denn er hat sein Leben im Griff. Hat es weit gebracht. Nur noch zwei Stufen trennen ihn vom CEO. Er gehört zu den oberen zehn Prozent in seiner Firma. Und will noch weiter aufsteigen. Bis an die Spitze. Dafür wird er alles tun. Auch wenn das heisst, dass er heute seine Anzüge und Hemden wiederum in die Express-Reinigung bringen muss. Das kostet Aufschlag. Aber er ist bereit, diesen Preis zu zahlen. Geld verdient er ja genug. Und Familie hat er auch nicht. Kinder sind eh zu teuer, findet er. Ausserdem Karrierekiller.

Daniel bereitet sich einen Grünkohl-Smoothie zu, so wie jeden Freitag. Heute nur eine halbe Banane, das muss reichen. Er streut Zimt über die cremige, grüne Masse und nimmt einen Schluck. Bitter. Er verzieht das Gesicht, trinkt dann aber Schluck für Schluck. Heute Vormittag steht ein wichtiges Meeting an, anschliessend ein gemeinsames Business-Lunch. Er würde wenig essen, zuhören und freundlich lächeln. Hauptsache der Kunde unterschreibt. Das würde ihn im internen Ranking einen gewaltigen Schritt nach oben befördern. Im Büro würde er sich einen Espresso gönnen. Ohne Milch. Vielleicht einen zweiten. Für den Fall, dass sein Hemd einen Kaffeefleck abbekommen sollte, hat er stets Ersatzhemden zur Hand.

Er steigt in seinen Audi A6, stellt die Klimaanlage an und hört Wagner. Klassische Musik soll die Gedanken beruhigen und innerlich stärken, hat er mal gelesen. Sie vertreibt ja auch die Penner aus den U-Bahnhöfen, denkt er grimmig, fährt auf die Autobahn und gibt Gas. Die Landschaft flitzt vorbei, Daniel nimmt sie kaum wahr. Er geht den Vertrag noch einmal durch, sammelt Argumente, stellt sich vor, wie er den Kunden empfängt und ihn charmant, aber zielstrebig zum Unterschreiben bringt.

Die Bremslichter sieht er zu spät. Oder die Sonne blendet ihn. Das kann er später gar nicht mehr genau sagen. Er versucht sich am Hals zu kratzen, doch die Halskrause liegt wie ein Betonband zwischen Kopf und Schultern. Sein Bein ist in einem Eisengestell, Schrauben verschwinden unter Verbänden, bohren sich in seine Haut. Der Schmerz flutet sein Gehirn so plötzlich, dass er fast ohnmächtig wird. Er sucht den Knopf, mit dem man nach der Pflege klingelt, sieht ihn über sich an der Aufstehhilfe baumeln. Der linke Arm rührt sich nicht, auch er ist in weisse Masse gepackt und unglaublich schwer. Mit der rechten Hand schaffte es Daniel schliesslich, den orangeroten Knopf zu betätigen. Erschöpft sinkt er zurück auf das Krankenbett. Bilder rasen durch seinen Kopf. Er hört Bremsen quietschen und Metall knirschen. Einen Schlag, dann nichts mehr.

"Sie haben geklingelt?". Eine Frau in weiss-blauer Kleidung mit tiefen Nasiolabialfalten und strähnigen Haaren steht vor ihm. Daniel öffnet die Augen und stammelt: "Was ist passiert?" Die Frau legt den Kopf schief. "Unfall. Auf der Autobahn. Sie hatten Glück, dass die Feuerwehr sie aus dem Blechhaufen herausschneiden konnte." Sie kontrolliert den Plastikbeutel mit der Fusion und schaut kurz auf den Monitor, der vor sich hin piepst.

"Mein Telefon. Wo ist es? Ich muss dringend telefonieren." Daniel versucht sich aufzurichten und die Decke zurückzuschlagen. Die Pflegerin drückt ihn sanft zurück ins Bett. "Nicht aufregen, das tut Ihnen nicht gut. Sie müssen nun erstmal gesund werden." Dann tritt sie einen Schritt vom Bett zurück. "Ihre persönlichen Sachen sind in der Schublade da." Sie deutet auf das typische Krankhausmöbelstück auf Rollen neben dem Bett. Ein Handy ist meines Wissens aber nicht darunter."

Daniel schliesst die Augen. Denkt an das Firmenranking, seine Smoothies, das Fitnessstudio und seinen Audi. Das wars dann wohl.

05/06/2023

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